Hubert Thielicke
Buchbesprechung
„… aber eine Chance haben wir“
Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr
Peter Brandt, Hans-Joachim Gießmann, Götz Neuneck (Hrsg.).
Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn 2022, 565 S., 36 Euro.
Diplomatie statt Konfrontation und Krieg – das grundlegende Konzept Egon Bahrs (1922 -2015) ist heute ganz besonders aktuell. Politiker wie er, Willi Brandt, Olof Palme oder Michail Gorbatschow, die sich zu ihrer Zeit nachdrücklich für Frieden, Sicherheit und Kooperation einsetzten, fehlen. Dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges werden wieder Spannungen geschürt, Kriege inszeniert. Statt zu verhandeln und zu deeskalieren, wird weiter aufgerüstet, sollen Panzer, die aber nur eine Stufe auf der Eskalationsleiter bedeuten, zum „Sieg“ führen. Keine Rede mehr von gemeinsamer Sicherheit und Diplomatie, erneut ist Europa tief gespalten. In dieser Situation ist das Beispiel Egon Bahrs von herausragender Bedeutung. „Egons Beitrag zur Staatskunst war es, eine Vision für die Zukunft zu haben und die Willensstärke, einen harten und schwierigen Weg weiterzugehen“, so Henry Kissinger. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigt Bahr als großen deutschen Außenpolitiker, mehr noch, als „wahren Friedenspolitiker“, der für den Frieden neue Wege ging.
In dem aus Anlass des 100. Geburtstags Egon Bahrs herausgegebenen Band erinnern Wegbegleiter*innen aus Politik, Wissenschaft und Kultur an die Staatskunst, Methodik und historischen Verdienste von Egon Bahr, insbesondere in der Friedens- und Sicherheitspolitik. Nahezu 50 Autoren steuerten Texte bei und beleuchten damit alle Facetten des politischen Menschen Egon Bahr. Der Titel „… aber eine Chance haben wir“ mag erstaunen; er ist der Antwort Egon Bahrs im Jahre 2012 auf die Frage „Ist die Welt noch zu retten?“ entnommen, so die Herausgeber im Vorwort.
Ob als enger Mitarbeiter von Willy Brandt in dessen Zeit als Regierender Bürgermeister in (West-) Berlin (1960-1966) oder als Außenminister ab 1966 bzw. Bundeskanzler (1969-1972) – stets zeichnete sich Bahr als kühner Denker aus, der wichtige Beiträge zur Lösung der Grundfragen seiner Zeit leistete. Als scharfsinniger Analytiker entwickelte er neue vorwärtsweisende Konzepte wie „neue Ostpolitik“, „Wandel durch Annäherung“ oder „gemeinsame Sicherheit“ und beeinflusste damit das politische und strategische Denken seiner Zeit, vor allem in Europa. „Er war geprägt durch strategische Weitsicht, durch großes Einfühlungsvermögen in andere, durch die Fähigkeit, sich in die andere Seite hineinzuversetzen, aber auch durch machtpolitisches Verständnis und pragmatischen Realismus“. So umschreibt Heidemarie Wieczorek-Zeul, seit 2016 Vorsitzende des von Egon Bahr gegründeten Willy-Brandt-Kreises, sein Wirken. Die Beiträge in den sieben Kapiteln analysieren das en détail, würdigen Egon Bahr als Vordenker und Staatsmann.
Im Mittelpunkt vieler Beiträge steht Egon Bahrs Beitrag zur Überwindung der deutschen und europäischen Teilung. So betont Heinz Fischer, Bundespräsident der Republik Österreich von 2004 bis 2016, die europäische Rolle des deutschen Politikers: Für Österreich, das an die Tschechoslowakei, an Ungarn und Jugoslawien grenzte, sei das Konzept „Wandel durch Annäherung“ besonders attraktiv gewesen, „weil es auch der österreichischen Vorstellung von einem gangbaren Weg zur Überwindung der Teilung Europas entsprach.“ Das Konzept habe noch an Gewicht gewonnen, als Brandt 1969 Bundeskanzler in der BRD und Kreisky Bundeskanzler in Österreich wurde.
Für den französischen sozialistischen Politologen und Sicherheitsexperten Pascal Boniface war Egon Bahr ein „Primus inter Pares“, der verstand, „dass es zur Veränderung der Situation in Deutschland – und damit in Europa – notwendig war , sich vorzuwagen, die Hallstein-Doktrin aufzugeben und das Risiko eines Dialogs mit Moskau, Ost-Berlin und den osteuropäischen Hauptstädten einzugehen.“
Den Weg zur deutschen Einheit analysiert Hans Misselwitz, ehemals Mitglied einer Oppositionsgruppe in der DDR und 1990 Staatssekretär im Außenministerium der letzten DDR-Regierung. Für ihn sahen die USA, wie auch die Sowjetunion in der Lösung der deutschen Frage ihre grundlegenden Interessen berührt. Während die USA den Status quo sichern wollten, d. h. durch die NATO-Mitgliedschaft den Fuß in Deutschland und Europa zu behalten, ging es der Sowjetunion darum, den Status quo zu überwinden, mit Unterstützung Deutschlands eine stärkere Einbindung in Europa zu erreichen. Ein Ziel, das – wie wir heute wissen – nicht aufging. Vielmehr habe das Festhalten des Westens an den Strukturen des Status quo und deren Ausdehnung nach dem Osten Institutionen des Kalten Krieges in die neue Epoche übertragen.
Auf Warnungen Egon Bahrs vor Mängeln der deutschen Einheit verweisen die ostdeutsche Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn und ihr Landsmann, der Sozialwissenschaftler Rolf Reißig. So betont die Schriftstellerin die Kritik Bahrs am Umgang mit den Streitkräften der DDR (NVA) und dem Außenministerium. Durch den Ausschluss der DDR-Diplomaten sei auf wertvolle Erfahrungen verzichtet worden. Für einen Außenpolitiker wie Bahr muss das eine bittere Erkenntnis gewesen sein.
Der Beitrag Bahrs zum Weltfrieden im Hinblick auf gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung ist ein weiterer gewichtiger Schwerpunkt des Bandes. Das gilt ganz besonders für sein Wirken als Mitglied der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit (1980-1982) unter dem Vorsitz des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme („Palme-Kommission“), aber auch als Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle des Deutschen Bundestages (1980-1990), als Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH, 1984-1994) und als Mitglied des Aufsichtsgremiums des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI.
Mehr als jeder andere beeinflusste Egon Bahr das Denken von Olof Palme und seiner Kommission, schreibt Hans Dahlgren, damals enger Mitarbeiter von Olof Palme. Das betrifft nicht nur das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, dessen Titel der Palme-Bericht trägt, sondern auch die in ihm enthaltenen konkreten Vorschläge: beiderseitige Truppenreduzierungen in Europa, Abbau dort stationierter Mittelstreckenraketen, Verringerung der strategischen Waffen, kern- und chemiewaffenfreie Zonen in Europa, Verbot der Kernwaffentests und von Weltraumwaffen – Projekte, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben.
Aufschluss über den Menschen Egon Bahr geben die in einem gesonderten Kapitel wiedergegebenen Erinnerungen über persönliche Begegnungen mit ihm. Als Mitglied der DDR-Delegation auf der Genfer Abrüstungskonferenz traf ich ihn das erste Mal 1981 in Genf, wo er Gespräche mit Delegationen führte. Besonders beindruckend für mich als junger Diplomat, wie aufgeschlossen er uns gegenübertrat und die Gedanken der anderen Seite aufnahm. Viele Jahre später war er ein geschätzter Autor unserer 1993 in Potsdam gegründeten Zeitschrift „WeltTrends“, trotz all seiner zeitlichen Belastung. So klingelte eines frühen Morgens mein Mobiltelefon, als ich in der Bahn von Berlin nach Potsdam saß: „Hier Bahr, ich schreibe Euch den gewünschten Artikel. Irgendwie werde ich die Zeit schon finden.“ So war er – der Mensch Egon Bahr.
Der Artikel erschien zuerst in „International – Zeitschrift für internationaler Politik“ – Ausgabe I/2023.
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