Karin Kulow
Zeitenwende Naher und Mittlerer Osten
Als Kanzler Scholz unmittelbar nach Ausbruch des Ukrainekrieges seinen Begriff von der Zeitenwende publik machte, hatte er dabei vor allem den euroatlantischen Raum im Blick. Die von ihm zurecht konstatierte Her-ausbildung einer multipolaren Ära wird dementsprechend mit der Orien-tierung verknüpft, die aufstrebenden Mächte des Globalen Südens auf die westliche Seite zu ziehen. Die Crux für den Westen ist allerdings, dass diese sich herausbildende multipolare Ära mit einer neuen Welle natio-nal-souveräner Emanzipationsbestrebungen einhergeht, deren Ziel gerade darin besteht, sich von jeglicher äußeren Bevormundung zu befreien und sich stattdessen entlang eigener ökonomischer wie politischer Interessen neu aufzustellen. Davon erfasst ist die seit mindestens einem Jahrhundert westlich dominierte Nah- und Mittelostregion.
Mit gestärktem Selbstbewusstsein zur Festigung nationaler Souveränität
Nachdem es hier zuvor ökonomisch zumeist schwach entwickelte Länder gewesen waren, die sich unter Führung von Mittelschichten mit zumeist begrenztem Erfolg aus der westlichen Umklammerung zu befreien suchten, handelt es sich nunmehr um prosperierende Schwellenländer wie die arabischen Golfstaaten, die mit sichtlichem Selbstbewusstsein ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Westen einfordern. Deren Wirtschafts- und Machteliten sind wegen ihrer noch erheblichen Behaftung mit feudal-theokratischen und clan-patriarchalischen Merkmalen eher als konservativ einzuordnen, während die Gesellschaften noch weitgehend traditionalistisch verfasst sind. Zudem galten sie bislang als engste Verbündete der USA wie des Westens insgesamt. Was sie aber offenkundig nicht daran hindert, heute einen antiwestlichen Emanzipationsprozess in Gang zu setzen und mithin gegen die hegemonialen US-Ambitionen wie den Universalitätsanspruch für die westlichen Werte aufzubegehren.
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Anmerkungen und Quellen
(1) So in seinem Artikel The Global Zeitenwende. How to Avoid a New Cold War in a Multipolar Era, in Foreign Affairs, January/February 2023.
(2) Siehe dazu Dr. Mohammed Al-Sulami, Gulf states have perfect opportunity to boost ties with the Caucasus.
(3) So beschuldigte der saudische Kronprinz seinen 25 Jahre älteren und früheren Mentor, den seit Mai 2022 als VAE-Präsident fungierenden Herrscher von Abu Dhabi, Mohammed Bin Zayed (MbZ), in einem vertraulichen Hintergrundgespräch mit saudischen Journalisten Ende 2022, dessen Inhalt unlängst beim „Wall Street Journal“ durchgestochen wurde, ihm hinterrücks einen Dolchstoß versetzt zu haben.
(4) Nachdem sie auf aktives Betreiben von US-Präsident Trump 2020 bereits unterlaufen worden war, weil VAE, Bahrein, Marokko und Sudan sich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel bereit gezeigt haben, ohne dies, wie eigentlich vorgesehen, mit der gleichzeitigen Proklamierung eines Palästina-Staates in den Grenzen von 1967 und mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt zu koppeln.
(5) Saudi Press Agency, Joint statement issued on strategic dialogue between GCC and Russian Federation, in ZAWA
(6) Zvi Bar’el, Washington Can’t Turn Back the Clock on China-Arab-Relations, in Haaretz, 30. Juni 2023.
(7) Siehe dazu Chinas multilateraler Handel mit dem Iran, Situation und Aussichten für 2023/24 vom 11. Juli 2023.
(8) Seyed Alireza Mousavi, Der Westen verliert im Nahen Osten zunehmend an Bedeutung, Deutsche Wirtschafts Nachrichten.
(9) Und zwar durch den 2019 unter der Trump-Administration verabschiedeten und seit Juni 2020 in Kraft befindlichen Caesar Syria Civilian Protection Act, mit dem Sanktionen gegen die syrische Regierung wie auch gegen den Präsidenten Bashar al-Assad wegen Kriegsverbrechen gegen das syrische Volk verhängt worden sind.
(10) Siehe dazu die Pressemitteilung der SOC vom 17. August 2023 unter dem Titel „Lösung der syrischen Krise hängt vom Sturz des Assad-Regimes ab“.
(11) Arab News, US deploys new forces and warships to Red Sea, 08.09.2023.
(12) Da alle bisherigen Wiederbelebungsversuche des von der Trump-Administration 2018 aufgekündigten und mit der UN-Sicherheitsratsresolution 2231 (2015) Völkerrechtsstatus erlangten Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), des so genannten Atom-Deals, ins Leere gelaufen sind, haben sich die Biden-Administration und die iranische Regierung offensichtlich unter Vermittlung Omans inoffiziell darauf geeinigt, dass sich Iran zu einer Urananreicherung von nicht mehr als 60% verpflichtet und dafür von den USA die Zusicherung erhält, auf 6 Mrd. USD seiner insgesamt eingefrorenen 20 Mrd. USD zugreifen zu können. Überdies wurde eine Verständigung über gegenseitige Gefangenenaustausche erzielt.
(13) Wie aus Berichten israelischer Medien ersichtlich ist, soll es sich dabei um drei Forderungen von MbS handeln, denen die USA zustimmen sollen. Nämlich, zu a) der Errichtung eines Atomreaktors, einschließlich der Berechtigung für die Urananreicherung im eigenen Land; b) dem einer NATO-Mitgliedschaft vergleichbaren Status des Landes sowie c) dem Zugang Saudi-Arabiens zu den modernsten Waffensystemen.
(14) Siehe dazu den redaktionellen Beitrag, Netanyahu’s Ministers Are Lashing Out Biden. This Isn’t the First Time, in Haaretz,13. Juli 2023.
(15) Amir Tibon, Smotrich: Israel Won’t Agree to Any ‘Gestures’ Toward Palestinians for Saudi Deal, Haaretz, 28. August 2023.
Biographische Angaben
Prof. Dr. Karin Kuhlow. Arabistin und Islamwissenschaftlerin, Nahostforum e.V., langjährige Forschungs- und Lehrtätigkeit zur Entwicklung politischer Systeme in arabischen Nahostländern und zum israelisch-palästinensischen Konflikt
Kulow-Kutschan@t-online.de
Globaler Wirtschaftkrieg
Die Autoren der vorliegenden Ausgabe sehen die Welt auf unabsehbare Zeit im Wirtschaftskrieg. Im Thema wird eine „Fragmentierung der Weltwirtschaft in rivalisierende Blöcke“ konstatiert, eine „Versicherheitlichung der Mächterivalität“, kontraproduktiv zu den ökonomisch-sozialen und entwicklungspolitischen Notwendigkeiten (J. van Scherpenberg). Im Wesen gehe es bei den „Sanktionen als Instrumente des globalen Wirtschaftskrieges“ (J. Rieken) um die Aufrechterhaltung westlicher Dominanz. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Wandlung der USA zur „Energiesupermacht“ mit globalem Einfluss (M. Daniljuk) und der Abbruch der direkten Energieimporte aus Russland bewirken einen Abstieg der Volkswirtschaften Deutschlands und Europas. Das geostrategische Umfeld der EU sei hochgradig instabil und von historischen Umbrüchen geprägt.
Das aktuelle WeltTrends-Heft Nr. 198 „Globale Wirtschaftskriege“ analysiert die wirtschaftspolitische Dimension des weltweiten Ringens um eine neue Weltordnung. Es ist im Shop als Digital- und als Druck-Version verfügbar. Weitere Information und Probeartikel finden sie im Blogeintrag.
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