Wilhelm Ersil – Nachruf

Wilhelm Ersil starb am 1. August 2024. Er war uns Freund, Mitstreiter im WeltTrends-Institut und Autor, immer wieder ein geistiger Anreger. Viele, die am Institut für Internationale Beziehungen der DDR (IIB) in Babelsberg studiert respektive gearbeitet hatten, kannten ihn als Lehrer im besten Sinne des Wortes, kritischen Kollegen und Mentor. Er war und blieb bis an sein Lebensende ein herausragender Wissenschaftler und Streiter für eine europäische Friedensordnung. Gefühlt war es erst kürzlich, dass wir ihm die Festschrift zu seinem 90. Geburtstag überreichten und ein Kolloquium aus diesem Anlass veranstalteten, auf dem er einen profunden Vortrag hielt. Aber inzwischen ist dies auch schon wieder sechs Jahre her.

Geboren wurde Wilhelm – für seine Freunde und Familie immer Willi – Ersil am 4. Juli 1928 in Gablonz, heute Jablonec nad Nisou, an der Neiße, im heutigen Dreiländereck zwischen Tschechien, Deutschland und Polen. Bei der Volkszählung 1930 hatte die Stadt fast 34.000 Einwohner; etwa 79,5 Prozent hatten sich als Deutsche erklärt, 16,5 Prozent waren Tschechen. Nachdem die Sudetendeutschen bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938/39 ihre unrühmliche Rolle gespielt hatten, wurden sie nach 1945 – unabhängig von persönlicher Schuld – des Landes verwiesen. Etwa 14.000 kamen aus Gablonz nach Thüringen. Willi nutzte hier, wie viele junge Heimatvertriebene damals, das Angebot der entstehenden DDR, „Neulehrer“ zu werden, den Beruf des Lehrers zu ergreifen, um die Schüler in einem antifaschistischen Sinne zu bilden und zu erziehen.

Von hier gelangte er in die Wissenschaft. Seine Dissertationsschrift zum Dr. phil. an der Berliner Humboldt-Universität 1956 hatte den Titel: „Die revolutionäre Massenbewegung der deutschen Arbeiterklasse gegen die Regierung Cuno“. Eine weiterentwickelte Fassung erschien 1963 als Buchpublikation: „Aktionseinheit stürzt Cuno. Zur Geschichte des Massenkampfes gegen die Cuno-Regierung in Mitteldeutschland“. Zum 100. Jahrestag der damaligen Entwicklungen 2023 wurde Ersils Schrift eine „Meistererzählung der DDR-Geschichtswissenschaft“ genannt, die im besten Sinne „Grundlagenforschung“ war (junge Welt, 11. Oktober 2023).      

Willi Ersil wurde 1963 in Babelsberg habilitiert und war zunächst Professor mit Lehrauftrag für Geschichte der Internationalen Beziehungen, ab 1969 ordentlicher Professor für Außenpolitik der kapitalistischen Staaten Europas, dann Leiter der Abteilung Außenpolitik dieser Länder am IIB. Dies bis zum Ende des Instituts 1989. Seine Forschungsschwerpunkte waren die Geschichte und Außenpolitik der BRD sowie die westeuropäische politische und militärische Integration. Dafür standen – im Sinne der Grundlagenforschung stets kenntnis- und faktenreich untersetzt – Publikationen wie „Politik in Westeuropa“ (1975, zusammen mit Jochen Dankert und Karl-Heinz Werner) zu den Integrationsprozessen seit Ende des zweiten Weltkrieges, „Außenpolitik der BRD 1949/1969“ (1986), „Westeuropa in den Ost-West-Beziehungen“ (1987, mit Jochen Dankert), „Westeuropa. Politische und militärische Integration“ (1985, mit Albrecht Charisius).

In seinem Beitrag zur Geschichte des IIB resümierte Ersil später (WeltTrends 2009), dass die EWG/EG am IIB nicht nur als wirtschaftlicher, sondern auch als politischer Machtkomplex analysiert wurde. Deren Funktion im Kontext der Ost-West-Konfrontation sei jedoch überbewertet, andere Aspekte, so hinsichtlich der Annäherung von Bürgern, Völkern und Staaten eher als weniger bedeutsam angesehen worden. Da er seine eigene Arbeit stets selbstkritisch beobachtete, hatte er nach der deutschen Vereinigung 1990 keine Probleme, seine wissenschaftlichen Arbeiten – auch ohne IIB – fortzusetzen, so zur weiteren politischen Integration, zur EU-Politik gegenüber Osteuropa, zu den Herausforderungen der EU-Osterweiterung, zu „Kerneuropa“ oder zu PESCO, der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ der EU in der Rüstungs- und Militärpolitik.    

Willi Ersil hatte die Partei, der er frühzeitig beitrat, nie verlassen. Er bleib ihr verbunden, all ihren Namensänderungen und Umprogrammierungen zum Trotz. Aber er sah recht klar, wie sie sich zunehmend in unproduktivem Streit verlor. Er versuchte weiter, die Idee einer linken EU-Politik im Geiste eines „solidarischen Europas“ voranzubringen, gemeinsamer Sicherheit in einem friedlichen Europa. In diesem Sinne nahm er auch an den regelmäßigen Debatten bei WeltTrends teil, an Diskussionen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem jährlichen Potsdamer Außenpolitischen Dialog. Seine Stimme wird uns fehlen.

Im Namen des Vereins, des Instituts, des Verlages und der Redaktion von WeltTrends,

                          Dr. habil. Erhard Crome                                Prof. Dr. Lutz Kleinwächter

                                Institutsdirektor                                             Vereinsvorsitzender

Weitere Nachrufe

Prof. Raimund Krämer – Rosa-Luxemburg Brandenburg


Nachdenken über Europa

Festschrift zum 90. Geburtstag von Wilhelm Ersil

Wohin geht Europa? Wie steht es um die Chancen der Europäischen Union? Vertieft sich die Kluft zwischen dem Kern und der Peripherie? Wird diese EU immer militärischer? Wo bleibt das Soziale im europäischen Integrationsprozess? Und wie stellt sich die deutsche und europäische Linke zu diesen Entwicklungen?

Seit Jahrzehnten prägt Wilhelm Ersil die marxistische Forschung zur europäischen Integration und gibt linker Europapolitik klare Orientierungen. Die vorliegende Festschrift zu seinem 90. Geburtstag vereint Texte des Jubilars aus fünf Jahrzehnten sowie Beiträge von Freunden und Kollegen (u.a. Erhard Crome, Gerry Woop, Helmut Matthes, Claus Montag, Petra Erler, Helmut Scholz, André Brie, Wolfram Adolphi), die zum Nachdenken über Europa und die Welt im 21. Jahrhundert einladen.

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