Kornelia Golombek

Quo Vadis Europa?

Polnisches Engagement gegen den russisch-ukrainischen Krieg

Der Untergang der Sowjetunion brachte gravierende Krisen in Europa mit sich. Neue Souveränitäten der Ukraine und die damit verbundene Chance eigener, von Russland unabhängiger Staatlichkeit entwickeln zu können, führt zu zunehmenden Konflikten in dieser Region und der direkte Nachbar Polen bekommt sie unmittelbar mit. Dieser Artikel thematisiert die gegenwärtige, aktive Rolle Polens in Verbindung mit dem Krieg zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation. Dabei widmet sich dieser Text vor allem politischen sowie soziologischen Aspekten.

1 Europa – ein unruhiger Kontinent

Seit Jahrtausenden wird auch der Kontinent Europa vom „Kriegsgott Mars“ aufgesucht. Dabei scheint es so als ob ein länger andauernder Frieden eher eine Seltenheit ist. Der Niedergang des Römischen Reiches, der dem alten Kontinent Europa zivilisatorische Errungenschaften und Phasen voller Grausamkeiten bescherte, ging zu Ende, als im Jahre 460 germanische Kriegsstämme die Epoche des Römischen Reiches beenden. Ebenfalls marsianisch und mit unverhohlener Härte begannen und endeten der Erste und der Zweite Weltkrieg. Diese Kriege führten zu weiteren, zerstörungsreichen Passagen in der Geschichte Europas. Was bleibt, ist die kollektive Erinnerung an Genozide, Flucht, Vertreibung und an das Mahnmal für die ganze Menschheit in der Symbolform von Auschwitz (Adorno 1966). Der Untergang der ehemaligen Sowjetunion brachte zudem gravierende wirtschaftspolitische Umwälzungen und Krisen in Europa mit sich. Das einst mächtige Bündnis sozialistischer Länder bricht mit der Sowjetunion auseinander. Neue Souveränitäten der Ukraine und die damit verbundene Chance eigener, von Russland unabhängiger Staatlichkeit entwickeln zu können, führt zuzunehmenden Konflikten in dieser Region und der direkte Nachbar Polen bekommt sie unmittelbar mit (vgl. Gregosz /Lemmen 2023:1).

Dieser Artikel thematisiert die gegenwärtige, aktive Rolle Polens in Verbindung mit dem Krieg zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation. Dabei widmet sich dieser Text vor allem den politischen sowie soziologischen Aspekten.

2. Krieg (auch) als mögliches Problem des „Standortbezuges“

Die erste These des Beitrags befasst sich mit der Tatsache, dass die polnischen Motive für die militärische Nachrüstung des Landes in der letzten Zeit deutlich zugenommen haben. Warum?

Die geopolitische Lage Polens zur Ukraine wäre eine mögliche Erklärung dafür, weil das EU- und NATO-Land Polen mit der Ukraine eine lange über 500 Kilometer Grenze teilt und ihr unmittelbarer, östlicher Nachbar ist (vgl. Mierheim 2022).

Könnte dies tatsächlich der einzige Grund sein, warum sich Polen gegenwärtig für die turboschnelle Aufrüstung einer der schlagkräftigsten konventionellen Armee Europas einsetzt? (vgl. Adam 2023:3).[1]

Die Welt ist entsetzt, dass es in Europa nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien zu einem nächsten Krieg gekommen ist. Doch kein Mensch reagiert auf der Realität direkt, sondern immer nur auf der Basis von Modellen. Je mehr diese Modelle strukturell mit der Realität übereinstimmen, desto besser funktionieren sie auf der Basis dieser Modelle geplanten Handlungen. (Jochims1996) Dabei verhält sich eine sogenannte „Landkarte“ (Bewusstseinslagerung), die uns (nicht nur) in solch extremen Momenten wie jenen des Krieges führt, abstrakt ausgedrückt zu „Landschaften“, in die die Wahrnehmung für unsere sehr individuell gelagerte Wirklichkeit zu betrachten ist.

So ähnlich verhält es sich mit den Kriegsparteien, weil wahrscheinlich ihre unterschiedliche Wahrnehmung, selbst im Krieg zu sein, sehr divers attribuiert wird. Somit bedienen sich Russland, Polen und Ukraine jeweils auf eine sehr exklusive Art und Weise einer „Brille“ die das Kriegsgeschehen nach ihrer jeweiligen „Seinsverbundenheit“ interpretiert und bewertet.  „A map is not territory…“, so das Plädoyer des polnischen Begründers der Kybernetik, Alfred Korzybski, und schafft damit eine Metapher für mentale „Landkarten“, die uns unbewusst leiten. Diese können durchaus imstande sein, menschliche Wirklichkeitskonstruktionen abzubilden.

Solch eine Art „Landkarte ist [zwar] nicht die Landschaf selbst, aber wenn die Landkarte der Struktur der Landschaft ähnlich ist, ist sie brauchbar“. Dies zielt darauf ab, dass der Mensch in zwei Welten lebt: in derWelt der Sprache (Kognition) und der Symbole sowie in der realen Welt der „Erfahrung“ (Praxis) (Korzybski 1933:58). Einfach ausgedrückt: Jeder Mensch ist an seinem geistigen Standort an seine Seinsverbundenheit gebunden. Der Begriff der „Seinsverbundenheit des Wissens“ ist untrennbar mit der Wissenssoziologie Karl Mannheims verbunden und verbindet nicht „nur“ die Bereiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern rekonstruiert sie. Mannheims Wissenssoziologie fußt auf einem „soziologischen Begriff des Denkens“, d.h. er wollte „untersuchen, nicht wie Denken in den Lehrbüchern der Logik erscheint, sondern wie es wirklich im öffentlichen Leben und in der Politik als ein Instrument kollektiven Handelns funktioniert.“ (IuU, 3) (Raith 2018: 251)

Hier kommen zwei unterschiedliche Ebenen der Seinsverbundenheit zum Tragen (vgl. auch Jung, 127ff): Zum einen der jeweilige soziale Standort bzw. die „Zusammensetzung jener Gruppen und Schichten, die in ihm zu Wort kommen“ für sich genommen (IuU, 265), zum anderen die Beziehung bzw. konkret die Konkurrenz (vgl. 1964 [1929]) zu anderen Standorten „in einem historischen Raum (…) und (…) dessen sich stets wandelnder Strukturproblematik“ (IuU, Raith 2018: 265). Das „Quo Vadis“ Europa im Zeichen des ukrainisch-russischen Krieges wirft (erneut oder immer wieder) zwingende Fragen an die Aufklärungspostulate der kantischen Weltordnung auf. Kants Schrift mit dem Titel „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ erschien 1795. Sie entstand unter dem Eindruck des sogenannten „Baseler Friedens“, der am 5. April 1795 zwischen Preußen und der Französischen Republik geschlossen wurde. Kant spricht sich für die Idee einer Weltordnung als Friedensordnung aus und dafür, dass der Friede zwischen den Staaten im Rahmen des Völkerrechts verwirklicht werden soll. (Arnold: 2022). Zugriff am 14.08.23 unter: Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ und der Russland-Ukraine-Krieg.

Auch Adorno richtet sein kritisches Auge mit Normen und Verhaltensweisen, die sich als ethisch verstehen sollen und eine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Seine Lehre „vom richtigen ethischen Leben“ sterbt nach „Lehren“ aus Krisen, die z. B. nach kriegerischen Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkrieges in Europa, um aus diesen Ereignissen Selbstreflektionen für Nachkriegsgenerationen herzustellen. Die heutige Krise weist darauf hin, dass die Rückkehr zur Ethik Adornos von modernen „Waffenschmieden“ der Zerstörung und des Todes versäumt wurde. Sowohl der Kategorische Imperativ als auch die Moralphilosophie Adornos haben die menschliche Handlung zur Gewaltlosigkeit geprägt. Behauptet man, durch den Rückgriff auf bestimmte ethische Prinzipien „richtig zu leben“, so verfängt man sich notwendigerweise in einer Ideologie, in der Illusion, die dann entsteht, wenn man die Welt und die Praxis durch die Brille von bestimmten – vorgegebenen – Handlungsmaximen sieht. Eine solche Ethik, die aus dem falschen Leben ein richtiges möchte, hat dann Teil an der Verblendung (vgl. Angermann 2012:135).  Doch was geschah am „Vortag“ des Krieges zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation?

Erleben wir momentan in Europa (wieder) eine Verblendung durch einen „neuen“ Krieg? Wer hat Angst vor wem und warum? Wann werden am runden Tisch die russischen und ukrainischen Staatsoberhäupter miteinander verhandeln? Irgendwann ist jeder Krieg zu Ende gedacht und getan. Ein Konflikt ist in den meisten Fällen ein tragischer Ausdruck von unerfüllten Bedürfnissen auf beiden Seiten. (Rosenberg 2006). Bis dahin übernehmen Dritte die Konfliktparteien in ihrem Konfliktlösungsprozessen. Diese kurze Chronologie von Friedensinitiativen von März 2022 bis Juni 2023 dokumentiert, wie andere Länder um Frieden in Europa bemüht sind.[2]

2.1 Position Russlands zur amerikanischen Politik

Die politischen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation könnte mögliche kausale Zusammenhänge haben, warum ein Krieg unmittelbar an der Grenze der Europäischen Union stattfinden konnte. Die Rede ist hier von Vertragsbrüchen der USA gegenüber Russland haben sowie um die Stationierung von Komponenten des US- amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen und in der Tschechischen Republik (vgl. Mangott/ Senn 2007: 11). Die Stationierung von Radarstationen in Osteuropa bieten den USA die Möglichkeit, in den westlichen Teil Russlands zu „blicken“. Bezüglich des sogenannten ABMVertrags, der die Anzahl von strategischen Abwehrraketen zwischen beiden Ländern regelt, so ist er in der George. W. Bush-Ära nicht eingehalten worden, sondern wurde als ein Relikt aus dem Kalten Krieg an die Seite geschoben. Diese Vertragskündigung ist sicherlich als eine Demütigung verstanden worden, gegen die sich Moskau nicht verteidigen konnte (vgl.ebd. 16).

Danach entstand 2014 die Russland-Ukrainekrise, in der Gebiete im Donbass, Luhansk und die Halbinsel Krim den „Zankapfel“ bildeten. Insbesondere um die Halbinsel Krim flammten zwischen Russland und der Ukraine Konflikte auf. Die Geschichte der Krim zwischen 1783 und 1917 ist eng mit dem russischen Zarenreich verknüpft. Die Neubesiedelung der Halbinsel durch Russen ging dabei in erster Linie mit der Umsiedlung von Krimtataren einher und passte in die kolonialen Praktiken und Handlungsmuster dieser Zeit. Gleichzeitig wandelten sich die russischen Eigenbilder über die Krim. Verstärkt wurde besonders nach dem Krimkrieg zwischen 1853 bis1856 der Kult um die Krim als Ort der Taufe und damit Geburt Russlands im Jahre 989.

Nach der Auflösung der Sowjetunion verblieb die Krim mit einer großen russischen Bevölkerungsmehrheit (circa 75–80 Prozent), zu der seit 1987 auch jener Teil der Krimtataren kam, die nach der Erlaubnis zur Rückkehr zurückkehrten (circa 12 Prozent der Bevölkerung). Der rechtlich zugesicherte Autonomiestatus der Krim wurde nach 1991 nicht real umgesetzt. Latente ukrainisch-russische Konflikte um die Schwarzmeerflotte in Sevastopol und der nicht endgültig geklärte Status der Region führten zu ersten Streitszenarien. 1997 endet die erste Phase von Konflikten um den Status der Schwarzmeerflotte. Seit dieser Zeit gilt Russland als Pächter seiner Militäranlagen am Schwarzen Meer (vgl. Jobst 2022: 208 ff). Ab 2014 spitzten sich im Bezirk Donezk und Luhansk die Spannung zwischen den Ukrainern und Russland zunehmend zu. Die Jahre 2014–2015 mündeten in der Hauptstadt von Belarus in der Unterzeichnung der russisch-ukrainischen Vereinbarungen, der scheinbar einen Weg zur Beilegung des Donbass-Konflikts vorsieht. Doch all dem zum Trotz marschieren Februar 2022 russische Streitkräfte in den souveränen Staat Ukraine ein. (vgl. von Essen / Umland 2022:1).

2.2 EU-Positionen in Bezug auf den ukrainisch-russischen Krieg

Zur Unterstützung der Ukraine plädierte die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela (?) Merkel für eine Reihe von Hilfsmaßnahmen in Form von finanzieller Unterstützung, dem Abschluss des Assoziierungsabkommens, Visaerleichterungen sowie einer Stärkung der ukrainischen Energiesicherheit.[3]( Merkel, 18/20, 13.03.2014, S. 1520-1521 sowie 18/94, 19.03.2015, S. 8884, S: 26). Mit Blick auf das künftige Verhältnis zu Russland betonten diverse SPD-Politiker, dass man Frieden in Europa nur mit und nicht gegen Russland erreichen könne und eine Nullsummenspiel-Logik überwunden werden müsse. ( Thönnes, 18/80, 16.01.2015, S. 7676  Thönnes, 18/17, 20.02.2014, S. 1209; Annen, 18/51, 11.09.2014, S. 4671 . Thönnes, 18/80, 16.01.2015, S. 7676; Annen, 18/20, 13.03.2014, S. 1540).

Bündnis 90/Die Grünen übten derweil scharfe Kritik an Russlands Politik im Ukrainekrieg. Die Annexion der Krim wird als völkerrechtswidrig und als Ausdruck eines „großrussischen Nationalismus“ bezeichnet (Beck, 18/20, 13.03.2014, S. 1530; , Göring-Eckhardt, 18/20, 13.03.2014, S. 1527)

Die Linke lehnt die gesamte Ostpolitik der Bundesregierung ab. Trotz Kritik an der russischen Krim-Annexion sprechen sie sich für Abrüstung und Dialog mit Russland aus. Die Ukraine könne als Brücke zwischen der EU und Russland den Grundstein für eine von den USA unabhängige gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur legen (Karolewski/Mehlhausen 2023:34).

Trotz des Widerstands einzelner Staaten wie Ungarn, Zypern und Griechenland ist es der EU bislang gelungen, das Sanktionsregime gegen Russland aufrechtzuerhalten In Frankreich gehören ehemaliger Präsident Nicolas Sarkozy und der ehemalige Präsidentschaftskandidat François Fillon, in Deutschland Teile der SPD und der CSU, sowie der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs und Bundesvorsitzende der SPD, Matthias Platzeck zu den Befürwortern der Kooperation mit Russland und einer Anerkennung der Krim-Annexion. Russlandfreundliche Töne sind auch von EU-Mitgliedstaaten Ungarn, Zypern, Griechenland, Italien und die Slowakei zu vernehmen. Anders, weil kritisch verhalten sich dazu die EU-Mitglieder und Polen, Schweden, Großbritannien, Litauen, Lettland und Estland (vgl. Karolewski/ Mehlhausen (2017:2f).

Warschau setzte sich seit 1991 konsequent dafür ein, Russlands Machtbestrebungen einzudämmen, während Berlin diverse Formen der Verflechtung und Kooperation mit Moskau, z. B. im Rahmen der Energiekooperation (Nord Stream-Pipelines) befürwortete. Warschau verfolgte zudem die außenpolitische Konzeption des „Ukraine zuerst“, z. B. durch das Projekt der Östlichen Partnerschaft der EU sowie Forderungen nach einer weiteren NATO-Osterweiterung. Ziel war es, postsowjetische Länder wie die Ukraine,aber auch Georgien, Moldau und Belarus zu demokratisieren und dem Einfluss Moskaus zu entziehen (ebd.4). In dieser Phase des Konfliktes schlugDeutschland einen eher vorsichtigeren Kurs ein; selbst nach der Annexion der Krim ist man um Deeskalation bemüht. (5) Merkwürdigerweise ist zur selben Zeit Polens Ministerpräsident Tusk für eine friedliche Beilegung des Konfliktes bemüht. „Solange ich Premierminister bin, wird Polen nicht an der Spitze eines antirussischen Kreuzzugs stehen. […] [Wir sollten] der falschen Wahrnehmung entgegentreten, dass Polen ein russlandfeindliches Land mit russlandfeindlicher Regierung ist, die immer einen Konflikt mit Russland anzettelt (…). (Tusk, 7/71, 09.07.2014, S. 16). Doch der damalige Präsident Bronisław Komorowski sah Russland als potentielle Bedrohung für Polen und setzte darauf, die strategische Abwehrfähigkeit des Landes zu festigen, u.a. durch eine Stärkung der Ostflanke der NATO sowie eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben des Staates.[4] Ein zentrales Element der polnischen Abwehrstrategie soll allerdings eine permanente Stationierung der US-Truppen auf polnischem Territorium sein. (B. Komorowski, 7/Zgromadzenie Narodowe, 05.06.2014, S. 5-6, vgl. auch G. Schetyna, 7/91, 23.04.2015, S.33 E. Kopacz, 7/76, 01.10.2014, S. 5, S: 11).

Als im Februar 2022 russischen Truppen das souveräne Land Ukraine besetzen, ist nach Ansicht der Politiker der PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwośč) der Westen daran schuld. Die PiS-Politiker betrachten das ambivalente Verhältnis einiger EU- und NATO-Mitglieder, unter anderem Deutschlands, zur Aggression Russlands gegenüber der Ukraine als Teil des Problems. Dabei soll Polen mehr Mitspracherecht in der Staatengemeinschaft bekommen „(…) Polen dazu fähig sein sollte, auch den mächtigeren Staaten gelegentlich Nein zu sagen, was in Verhandlungen ein Veto bedeutet…“ ( Szczerski, 7/79, 06.11.2014, S. 176) .

3. Die geronnene Geschichte Polens und ihre Wirkung auf die kollektiven Praktiken

Polen geht aufgrund seiner geopolitischen Lage und seiner Vergangenheit den Weg der militärischen Abschreckung zurecht, weil es oft in der Geschichte in Stich gelassen wurde. Zudem hat das Land momentan ein sehr schwieriges, ambivalentes Verhältnis zur Ukraine, [5] auch wenn es derzeit von allen europäischen Ländern die meiste humanitäre Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge leistet. (vgl. Gregosz/ Lemmen :1ff). Etwas verwirrend oder sogar messianisch kling die gegenwärtige Staatsräson Polens: „(…) Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, wären Polen und das Baltikum die nächsten Ziele Moskaus (…)“ (vgl Adam ebd.:3). 

Nicht nur die Geopolitik, auch die Rekonstruktion des Vergangenen und der Gegenwart im Denken und Handeln erlebt wahrscheinlich (immer wieder) eine kollektive Renaissance, die sich auf die polnischen Traumata bezieht, die sich öfters in der Geschichte Polens ereignet haben und die möglicherweise die gegenwärtige Aufrüstungspolitik vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges aufrechterhälten. Polen als das Land im mittlerem Osten Europas gehört zu jenen Ländern, die am längsten in der Geschichte von unterschiedlichen Staaten besetzt wurde. Es handelt sich dabei um das polnische Dilemma, das seinen Ursprung im Jahr 1569 (Polens Übergang zu einem republikanischen System) hat und teilweise bis zum Untergang des Kommunismus 1989 angedauert hat. In über dreihundert Jahren (außer 1772 bis 1795 und 1918 bis 1939) Jahren hat die Fremdherrschaft von Besatzungsmächten (darunter Frankreich, Ungarn, Schweden, Preußen, Österreich, Russland und Deutschland) dem Land ihren „Stempel“ aufgedrückt (vgl. Cegielski/Kądziela 1990). Wir alle stehen in einer Reihe, sind Glieder einer Kette von Generationen, verbunden und verknüpft über vielgestaltig weitergegebene biologische, kulturelle, gesellschaftliche wie familienspezifische Vermächtnisse. Wir werden so in eine bereits bestehende Welt eingegliedert und durch diese geprägt, lange bevor wir uns dieses Einflusses bewusst sind und eine aktive Aneignung dieses Erbes möglich wird. (vgl. Rauwald 2020: 13). In erster Linie geht es um unverarbeitete seelische Traumata, die aufgrund von z.B. Genozid, Flucht, Vertreibungen oder langandauernde Okkupation in verschiedenen Zusammenhängen erworben und an zukünftige Generationen (unbewusst) vererbt werden.

Dabei könnte der sogenannten „Vorderbühne[6] der Politik eine Wahrnehmung zugrunde liegen die mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zusammenhängt und Polens Politik immer positiver der US-Politik offenbart. Die Zeit, in der Polen für Trump eine „Trump-Town“ erbauen wollte, scheint endgültig vorbei zu sein. Polen mutiert inzwischen weg von der amerikanischen Regierung zu einem, von US-„Think Tank“  zum für die NATO-Bündnisstaaten wichtigsten östlichen Eckpfeil der gegenwärtigen westlichen Militärstrategie.(vgl.Gregosz/Lemmen 2023: 1). Lassen sich auf dieser Art und Weise die Bewegungsgründe für die anvisierte Aufrüstungspolitik Polens begreifen oder könnte sich angesichts eines neuen Krieges, der unmittelbar vor der eigenen „Haustür“ stattfindet, das kollektive Gedächtnis reaktiviert werden, das ebenfalls nach kollektiven Sicherheitsbedürfnissen verlangt, weil das Land seit Jahrhunderten viel Leid aufgrund von politischer Unfreiheit erlitten hat? Selbst Präsident Duda schuf in seiner Rede einen Brückenschlag zur polnischen Vergangenheit, indem er sagte, dass „(…) nur das Heldentum des Soldaten, in wirksamer moderner Ausrüstung imstande ist, die russische imperialen Ambitionen, die russische Brutalität zu stoppen …“ (Adam ebd.:3).

Eines ist sich schon heute für Warschau sicher: „Wir wollen Frieden. Deswegen bereiten wir uns auf den Krieg vor (…)“ (ebd.: 2). Die emsigen Kriegsvorbereitungen in Polen präferieren zudem die Präsenz von NATO-Streitkräften an Polens Ostgrenze und fordern von der die permanente Stationierung von US-Truppen. (vgl. Karolewski/Mehlhausen 2017: 11).

Schlussbemerkungen

Anhand der anfangsgestellten Frage an den Artikel, Quo Vadis Europa, lassen sich aufgrund von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, wie sich die EU-Länder angesichts des Ukrainekrieges positionieren, zwei Interpretationsebenen herausarbeiten:

Die Europäische Union ist kein Staatsgebilde, sondern ein Zusammenschluss von 27 europäischen „Häusern“. In jedem dieser „Häuser“ entstehen spezifische Interessensvorstellungen und Bedürfnisse. Diese zu bündeln scheint heute einem „Drahtseilakt“ zu ähneln, weil sich die Völkergemeinschaft in einem Punkt einig ist, dass einerseits für alle Beteiligen der Krieg in der Ukraine schnellstmöglich beendet werden soll und anderseits unterschiedlichen Taktiken verfolgt.

Der ukrainische Krieg in Europa könnte bisweilen als ein Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West verstanden werden. Die USA und die EU beliefern die Ukraine nicht nur mit Waffen, sondern führen einen Handelskrieg gegen Russland und umgekehrt. Beide Seiten belegen sich gegenseitig mit Sanktionen. Die Politik greift zu Mitteln der Ausgrenzung und Gesprächsverweigerung – auf beiden Seiten. (vgl. Elbe 2015:1).

Worin sich alle EU-Staaten einig sind, ist der politisch gesteuerte Wille, nämlich, dass der Krieg in Ukraine schnellstmöglich beendet sein möge.

Was die Länder in ihrem „Standortbezug“ unterscheidet, ist das Faktum, dass Polen und das Baltikum am meisten, zum Teil aufgrund ihrer geopolitischen Lage und ihrer Geschichte am aktivsten in die Aufrüstung investieren.

Jürgen Habermas hat die Entwicklung der Öffentlichkeit in seinem Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) rekonstruiert und unsere moderne Form der politischen Öffentlichkeit aus der Entstehung von Marktgesellschaften hergeleitet. Die brauchen einerseits den öffentlichen Austausch, andererseits Räume privater Abgeschlossenheit, in denen geschäftliche und politische Pläne und Strategien entwickelt werden können. Daraus entsteht peu à peu jenes Wechselspiel von Privatheit und politischer Öffentlichkeit, wie sie bis heute in den liberalen Demokratien besteht (Welzer 2023):  „Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit – eine sehr kurze Geschichte der politischen Öffentlichkeit„.

Diese liberale Demokratie behält gleichzeitig die im Bericht zitierte, sogenannte „Hinterbühne“, die für die Öffentlichkeit, für die öffentliche Meinung nicht zugänglich ist. Als ein System übernimmt ein Soziotop der Politik eine soziale Rolle, die ebenfalls eine Fassade für die dort vorkommende Rollenverständnisse erschafft. Die „Hinterbühne“ könnte somit all das beinhalten, was sich z.B. in den Parteigremien abspielt, wenn es keine öffentlichen Zuschauer gibt.

Daraus erfolgt dann für jeden Einzelnen die Frage, inwiefern wir an diese erschaffene (Schein-?) Wirklichkeit glauben wollen bzw. glauben können.

Dieser Satz enthält ein Sinnbild und wendet sich direkt an das 1973 von Pinkt Floyd veröffentlichte Musikalbum mit dem Titel „The Dark Side of the Moon“. Mit einem Interpretationsschritt wäre es zu vermuten, dass der Titel eine unüberschaubare Welt der Politik zum Thema macht, wo Hintergrundberichte und politische Agreements erdacht werden, über die die Öffentlichkeit lediglich später oder auch niemals etwas erfährt. Freilich ist dies nur eine kleine Hypothese, die es allerdings möglich macht, einen „Raum“ zu kreieren, in dem Vermutungen, aber auch Hoffnungen zustande kommen. Vielleicht leitet uns dieser Gedankengang zu den gegenwärtigen Momenten der Zeit, in der sich Polen in einem Turbotempo mit marsianischen Strategien umgibt und in der Ukraine täglich Kämpfe stattfinden, die auf beiden Kriegsseiten der ukrainischen und der russischen Opfer fordern. Aber vielleicht können gleichzeitig hinter den politischen Kulissen Friedensverhandlungen mit Moskau, Kiew oder Washington ausgehandelt werden. Das neue bzw. ein gewandeltes „Gesicht“ Europas neu zu denken und es neu zu (er-)leben, könnte demnach eine Antwort auf die Frage des vorliegenden Artikels liefern. Das „Quo Vadis Europa“ wäre dann mit dem Begehren und der Hoffnung auf baldigen Frieden gleichgesetzt.

Endnoten

1 Momentane Stärke des polnischen, konventionellen Herrs beträgt 164.000 Soldaten. Mittelfristig sollen es 300.000 Soldaten werden (vgl. Adam 2023:2).

2 Anbei manche politisch, gesteuerten Bemühungen:Friedensmission afrikanischer Staats- und Regierungschefs in die Ukraine und nach Russland unter Leitung des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa mit Vorstellung eines Zehn-Punkte-Friedensplans.

Dabei dürfen wir die unparteiischen und politisch neutralen Friedensaktionen von der Publizistin Alice Schwarzer mit dem „Manifest für Frieden“ nicht aus den Augen verlieren. Mehr als 200.000 Unterschriften sammelt sie bundesweit gegen Waffenlieferungen und handelt im Sinne von Badieu, in dem eine ethische Paradoxie stattfindet, die in der Durchführung von Krieg eine Absicherung des Friedens wissen will (vgl. Angermann 2012:138). Der Olymp des Rock in der Person des Begründers von Pink Floyd Roger Waters zum Wort über die Geschehnisse in „Old Europe“. Seine Ausführungen zum ukrainisch-russischem Krieg vor dem UN- Sicherheitsrat lassen. In seinem Lied aus dem Jahr 1975 beschwört er in genialer Musikdarbietung den Seher von Vision „… Come on you raver, you seer of visions…“. Seine pazifistische „Vision“ des US-Bürgers im Jahr 2023 bezog sich vorwiegend darauf, wie man Kriegen in ihrer Kernentstehung vorbeugen kann.

3 Im Folgenden wird folgendermaßen zitiert: Zunächst wird der Name des Abgeordneten genannt, der – wenn nicht anders ausgewiesen – der gerade analysierten Partei angehört. Danach folgen erst die Wahlperiode und die Sitzung, das Datum und schließlich die Seitenzahl. Alle Plenarprotokolle sind online einsehbar unter http://www.sejm.gov.pl/sejm7.nsf/stenogramy.xsp?rok=2014 und http://www.sejm.gov.pl/sejm7.nsf/stenogramy.xsp?rok=2015 [Zugriff 30.01.2017].

Ale Aussagen wurden im Folgenden von den Autoren ins Deutsche übersetzt. (Golombek zit. N. Karolöewski / Mehlhausen 2017:7).

4 Das Ladungspotential von Kriegsmaschinerie, das Polen gegenwärtig empfängt, lässt sich nach einigen Recherchen so darstellen: nicht nur Polen selbst stellt modernes Kriegsgerät her ( Panzerhaubizen- Krab) , sondern lässt es importieren, wie zB.  K2-Kampfpanzer, K3 Haubizen, südkoreanische Raketenwerfer Abrams, F-35 Kampfjets liefert die USA. Dabei exportiert Polen in die Ukraine T-72 Panzer und Leopardpanzer sowie MIG-29 Kampfjets (vgl. Adam 2023 1ff).

5 Wolhynien Massaker, als ethnische Säuberung Rzeź wołyńska, 1943- bis Kriegsende ist als Genozid an der polnischen Bevölkerungsgruppe in ehemaligen polnischen Ostgebieten durch die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) in die Geschichte der beiden Nachbarländer eingegangen ist. Ein Leid, das im kollektiven Bewusstsein Polens als die übelste Verkörperung des Bösen gespeichert ist. Diese Massaker in Wolhynien sind eine  geschichtliche Tatsache (vgl. Portnov 2022:59).

6 „Wir alle spielen Theater…“ (Goffman 1959, S. 3) Die soziale Welt als eine „Bühne. Wobei die Vorderbühne das sichtbare Geschehen ermöglicht und die „Hinterbühne“ sich mit der Hinterfragung des gewonnenen Eindrucks der „Vorderbühne“ beschäftigt (vgl. ebd.).

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Eine Kurzfassung des Artikels erschien zuerst in WeltTrends Nr. 199: Unsicherheitsstrategien Deutschlands (S. 9-14).

Biografische Angaben: Kornelia Golombek Kornelia Golombeck studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Sie ist Dozentin und interkulturelle Trainerin im Hochschulbereich. Seit 2018 forscht sie im Bereich Kulturanthropologie zum Thema Wanderarbeiter aus Polen in Westeuropa.

Kontakt: golombekk@yahoo.de


Deutschlands Strategien der Unsicherheit

WeltTrends Heft 199

Vor dem Hintergrund einer schwierigen Sicherheitslage legte die Bundesregierung Mitte des vergangenen Jahres erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie vor, die „mehr Orientierung bieten“ soll, gefolgt von einer China-Strategie und den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Wer jedoch auf eine eigenständige, auf Vermittlung und effektive Rüstungskontrolle gerichtete Rolle des wirtschaftlich stärksten Staates im Zentrum Europas gehofft hatte, der musste sich getäuscht sehen. Folgsam ordnete sich Berlin in die von jenseits des Atlantiks vorgegebene Linie ein.

Im Thema dieses Heftes analysieren unsere Autoren verschiedene Aspekte des Programms, das auf eine Militarisierung von Staat und Gesellschaft hinausläuft und im Grunde auf Feindschaft zu Russland, Systemkonfrontation mit China und Vasallentreue gegenüber den USA gerichtet ist. Festgeschrieben wird das Zwei-Prozent-Ziel und damit eine langfristige Hochrüstung.

Im WeltBlick geht es vor allem um die Neuausrichtung der polnischen Außenpolitik unter der der Koalitionsregierung von Donald Tusk. Ohne eine tragfähige Lösung des Palästinaproblems ist auch die Sicherheit Israels nicht auf Dauer zu gewährleisten – so die Schlussfolgerung der Kommentare im Forum zur Lage im Nahen Osten.

Weitere Informationen sowie die Möglichekeit der Bestellung im WeltTrends-Blog.

 

             

               

 

 

 

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