Florian Keisinger
Buchbesprechung
Das Ende der Sowjetunion 1990/91 war eine historische Zäsur. Globalpolitisch und mit Blick auf die Neugestaltung Mittel-und Osteuropas; aber auch aus historiographischer Perspektive: Die vermeintliche Faustformel, dass sich Revolutionen nur mit Krieg erfolgreich durchsetzen ließen, schien seine Gültigkeit verloren zu haben. Sieht man von regional beschränkten militärischen Konflikten ab, etwa in Georgien oder Aserbaidschan, verlief die Aufspaltung des Sowjetreiches überraschend friedlich.
Dieser historische Sonderweg wird nun von Putin mit gut 30-jähriger Verzögerung revidiert. Wobei erste Schritte in diese Richtung bereits 2008 im Georgienkrieg und 2014 mit der Annexion der Krim ersichtlich waren. Zugespitzt lässt sich somit konstatieren, dass der großflächige russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 mit dem Ziel der territorialen Annexion des Landes die bis dato gültige historische Konstante nachträglich bestätigt, demnach Revolution und Krieg zwei Seiten einer Medaille bilden.
Aus der Flut der Publikationen zum Krieg sowie zur russisch-ukrainischen Geschichte ragt das Buch des Münchner Osteuropa-Historikers Martin Schulz Wessel heraus. Die Nominierung zum Deutschen Sachbuchpreis 2023 ist wohlverdient. Schulze Wessel argumentiert ebenso kenntnisreich wie unaufgeregt, ohne dabei mit klaren Urteilen hinsichtlich des russischen Aggressors hinterm Berg zu halten. Gleichwohl hütet er sich vor derzeit populären essentialistischen Zuschreibungen, sondern verortet die Entwicklung Russlands entlang ihrer historischen Kontinuitäten und Zusammenhänge. Wobei dem Begriff der „Pfadabhängigkeit“ bei Schulze Wessel eine besondere Bedeutung zukommt: Ein bewusstes Umschwenken einer einmal eingeschlagenen Richtung erweist sich demnach als schwierig, wenn nicht gar als ausgeschlossen, selbst dann, wenn sich der Weg – wie derzeit in Russland – als (selbst)mörderisch herausstellt. Im russischen Fall sei dies die tiefsitzende Annahme, Russland könne nur als Imperium dauerhaft Bestand haben. Dieser Mythos wurde seitens des Kremls über Jahre hinweg befeuert, verknüpft mit der Konstruktion eines imaginären westlichen Feindes, der alles daran setze, dem russischen Volk seine ihm zustehende historische Größe zu verwehren. Wie verbreitet dieses Narrativ ist, kann man daran ablesen, dass – Propaganda hin oder her – wohl weiterhin eine Mehrheit der Russen Putins Weg in den Untergang gutheißt.
Schulze Wessel setzt ein im frühen 18. Jahrhundert. Die Verbindung von Außenpolitik, imperialer Herrschaft und Identität zieht sich wie ein roter Faden durch die russische Geschichte. Wenngleich der Drang zum Imperium von den westlichen Zeitgenossen zunächst nicht als Problem per se angesehen wurde. Schließlich strebten spätestens seit dem 19. Jahrhundert sämtliche europäischen Großmächte nach Besitztümern jenseits der eigenen Grenzen. Für Konfliktpotential sorgte vielmehr das gesamteuropäische Machtgefüge, welches etwa im Kontext der „orientalischen Frage“ – der Problematik der Aufteilung des untergehenden osmanischen Reiches – aus seiner sorgfältig tarierten Balance zu geraten drohte.
Wie überall setzten die nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts auch in Russland das Prinzip imperialer Herrschaft unter Druck. In Polen und der Ukraine entstanden ab den 1830er Jahren gemeinsame Strategien der Befreiung vom Zarenreich. Aus russischer Perspektive bedeutete die kurzzeitige Etablierung des ukrainischen Nationalstaats 1918 die größte Bedrohung für den Bestand des Imperiums; ein Zustand, der sich bis in die Stalin-Ära fortzog. Schulze Wessel erkennt darin Parallelen zum russischen Versuch der ukrainischen Re-Integration nach 1991, der darauf abzielte, das Land in die Abhängigkeit von Moskau zurückzubefördern.
Besonders aktuell ist jener Teil des Buches, der „Russlands Weg in die Diktatur“ unter Putin skizziert sowie das Unterfangen, die Länder des vormaligen Ostblocks der neoimperialen russischen Vision zu unterwerfen. Und wie bereits im vorangegangenen Jahrhundert galt dabei, dass die Ukraine als Kernbestand des Imperiums definiert wurde. Putins Denken bewegt sich in jenen „nationalistisch-imperialistischen Mustern“, deren Wesenskern ins 19. Jahrhundert zurückreicht und worin die Ukraine den verlängerten Arm des Westens darstellt. In die gleiche Rubrik fällt auch Polen, weshalb in der historischen Logik Putins, so Schulze Wessels unmissverständliche Warnung, im Falle eines Erfolges in der Ukraine Polen das nächste Angriffsziel Russlands sein dürfte.
Wie geht es mit Russland weiter? Die Chance auf eine russische „Zeitendwende“ ist nach Ansicht Schulze Wessels nur dann gegeben, wenn das Land den Krieg in der Ukraine verliert und eine grundlegende Neubesinnung als „postimperiale Nation“ stattfindet. Eine Entwicklung, die unter der Herrschaft Putins jedoch als ausgeschlossen gelten darf.
In diesem Zusammenhang lohnt der Blick in ein leider kaum rezipiertes Buch, das bereits 2020 erschienen ist und auf einer Vorlesungsreihe des renommierten Osteuropahistorikers Dietrich Geyer zur Geschichte des russischen Imperiums basiert (Dietrich Geyer: Das russische Imperium. Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion. De Gruyter Verlag 2020, 468 Seiten, 39,95 €). Darin legt Geyer dar, dass zu den Wesensmerkmalen des russischen Staates seit dem 17. Jahrhundert zählt, die Gesellschaft nach seinem Ebenbild zu formen. Die eingängige Formel, die Geyer hierfür prägte, lautet „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“. Stets war es demnach der Staat, der als Treiber von politischer und gesellschaftlicher Veränderung fungierte. Der Blick auf die russische Gegenwart scheint diese Lesart zu stützen. Mit einer zivilgesellschaftlichen Auflehnung gegen das System Putin ist nicht zu rechnen. Veränderung im Sinne eines Umsturzes der bestehenden Ordnung kann folglich nur aus dem Innenleben der staatlichen Strukturen heraus erfolgen.
Florian Keisinger, München
geb. 1979, Historiker und arbeitet bei Airbus.