Andreas Forner

Kriegswirtschaft

Ein ordnungspolitischer Ausnahmestatus. Klare Maßstäbe statt Inflationierung

In der öffentlichen Kommunikation seit dem Ukrainekrieg und ihn begleitenden Waffenlieferungen, Sanktionen und Spannungen wird der Begriff der Kriegswirtschaft in den verschiedensten Zusammenhängen und oft nicht ohne Seitenblick auf Anliegen und Ziel der jeweiligen Publikation benutzt, läuft damit jedoch auch Gefahr, inflationiert zu werden. Dabei bleiben oft geschichtliche Bezüge und Vergleiche sowie der Versuch einer klaren Definition und der Bestimmung messbarer Indikatoren einer Kriegswirtschaft auf der Strecke. Genau das ist Anliegen dieses Beitrages.

Begleitet von einer Reihe eine Kriegswirtschaft als solche ausmachenden Kriterien ist der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt aus diversen Gründen das geeignetste. Die Grenze, die eine Wirtschaft zur Kriegswirtschaft werden lässt, sollte irgendwo zwischen 15 und 30 Prozent liegen

„Kriegswirtschaft“ war in den vergangenen Jahrzehnten ein Begriff, der überwiegend vor geschichtlichen Hintergrund gestellt wurde. Lehrbeispiel sind die deutsche Wirtschaft während des Zweiten Weltkrieges, aber auch die Wirtschaften Alliierter wie der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion. Weniger taucht „Kriegswirtschaft“ im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Wirtschaft im Vietnam-Krieg oder im Irak-Krieg auf. Stattdessen in letzter Zeit umso mehr mit Bezug auf den Ukraine-Krieg und dort nicht nur unterschiedlich verteilt über die Kriegsparteien sondern beispielsweise auch in Bezug auf Waffenlieferanten Deutschland, seine Zeitenwende und das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr. Ein teilweise unkontrolliertes Jonglieren mit dem Begriff „Kriegswirtschaft“ wird begleitet von einem ebensolchen, was den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrieg, (politisch motivierten) Sanktionen und (wirtschaftlich motivierten) Handelsbeschränkungen betrifft. Letzteres ist hier nicht Thema, sei aber der Vollständigkeit halber erwähnt.      

Wenn hier eine Definition der Kriegswirtschaft an den Anfang gestellt wird, dann ist das keine Vorwegnahme des Endes, denn Definitionen sind verbal und ermöglichen Spielräume und Grauzonen. Und diese im Anschluss herauszustellen und einzuschränken ist hier eigentliches Ziel.  Die hier entwickelte Definition enthält die für sich genommen unstrittigen Komponenten „Wirtschaftsordnung“, „Ausrichtung auf Kriegsführung“ und „Zentralismus“.

Kriegswirtschaft ist eine Wirtschaftsordnung, in der alle wirtschaftlichen Potenziale mit Priorität auf die Ziele der Kriegsführung ausgerichtet sind, während anderen Bereiche auf ein notwendiges Minimum zurückgefahren werden. Kennzeichnend ist eine Tendenz zu zentralistischer Wirtschaftslenkung mit einem Weniger an Markt und einem Mehr an Staat. Die Wirtschaft kriegsführender Länder weisen in der Regel Merkmale einer Kriegswirtschaft auf, die mit Beginn eines Krieges hervortreten und mit seinem Ende ihre Grundlage verlieren.

An welcher Stelle genau „Priorität“ oder „Zentralismus“ die Oberhand gewinnen, oder was es mit dem „in der Regel“ auf sich hat, nach der kriegsführende Länder eine Kriegswirtschaft aufweisen, und das offensichtlich Ausnahmen einschließt, soll hier weiter erörtert werden. Und das muss es.  Die meisten Quellen binden die Kriegswirtschaft tatsächlich an den Status einer Kriegspartei. Es gibt aber, auch ausgehend von Diskussionen zum Ukraine-Krieg, durchaus abweichende Ansätze. Und zwar in zweierlei Richtung.

Zum einen steht die Frage, ob jedes Land, das sich im Krieg befindet, automatisch im Modus der Kriegswirtschaft ist. Ein Artikel in der Frankfurter Rundschau hantiert 16 Monate nach Beginn des Ukraine-Kriegs mit dem „Übergang Russlands zur Kriegswirtschaft“, an anderer Stelle dem „Übergang zur totalen Kriegswirtschaft“, und stellt an wieder anderer Stelle fest, dass Russland mit fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) anteilig eine Bruchteil der Ukraine (43 Prozent) ausgibt. (Hofstetter 2023) Bleibt die Feststellung: Selbst wenn fast eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn der Übergang zur Kriegswirtschaft diagnostizier wird, muss es zwischen Kriegsbeginn und Feststellung einen Zeitraum gegeben haben, zu dem sich Russland im Krieg, seine Wirtschaft aber (noch) nicht im Status einer Kriegswirtschaft befunden hat. Und es bleibt die Frage: Gibt es messbare Kriterien für den Übergang einer Wirtschaft in den Status der Kriegswirtschaft? Sind es 5 Prozent der Militärausgaben vom BIP, sind es 20 Prozent oder 40 Prozent? Haben Russland mit 4 Prozent Anteil seiner Militärausgaben am BIP eine Kriegswirtschaft, die USA mit 3,5 Prozent, weil sie aktuell nicht im Krieg sind, nicht? Die Frage messbarer Kriterien ist wichtig und wird hier weiter verfolgt.

Zum anderen sei auf die Meinung verwiesen, dass nicht erst die Beteiligung an einem Krieg eine Kriegswirtschaft erfordere. „Wer einen Wirtschaftskrieg führen möchte, braucht eine Kriegswirtschaft.“ (Mulder 2022). Davon, einen erfolgreichen Wirtschaftskrieg von einer Kriegswirtschaft abhängig zu machen, wird sich hier distanziert. Wenn die gewählte Definition von Kriegswirtschaft deren Anwendung auf nicht im Krieg befindliche Wirtschaften im Ausnahmefall aber auch nicht ausschließt, so hat das andere Gründe. Wie war das mit der sowjetischen Wirtschaft nach Beginn der Industrialisierung unter Stalin in den 1930er Jahren? Hier ging es nicht um Wirtschaftskrieg, womöglich aber um die Vorbereitung auf einen  als unausweichlich betrachteten künftigen Krieg.

Kriegswirtschaftslehre

Es gibt keine Lehre vom Wirtschaftskrieg, bei längerem Suchen findet man aber den Begriff Kriegswirtschaftslehre. Allerdingsnicht oft, und wenn in aktuellen Quellen, dann meist mit Bezug auf den österreichischen Nationalökonomen und Multiwissenschaftler Otto Neurath (1882 – 1945), der auch die Urheberschaft dafür in Anspruch genommen haben soll. Zu seinen Beiträgen gehören „Die Kriegswirtschaftslehre als Sonderdisziplin“ (Neurath 1913 a) und „Probleme der Kriegswirtschaftslehre“ (Neurath 1913 b).

Schon vor dem Ersten Weltkrieg und seinen erstmalig in dieser Dimension vorhandenen Erfahrung mit Kriegswirtschaft verweist Neurath auf eine Lücke in der Nationalökonomie, wenn es um den Platz des Krieges in ihr geht.

Schaut man zu Smith, Marx, Schumpeter („Atavismus“) oder Keynes, so fällt die Aussage zwar nicht ganz so radikal wie bei Neurath aus, aber der Bezug zum Krieg ist eher „Nebenprodukt“ ihrer eigentlichen Theorien. Und nicht eigenständigen Zweig, keine „Kriegswirtschaftslehre“. Krieg und Kriegswirtschaft werden in der Geschichte der Nationalökonomie nicht als Regelfall und damit nicht als Konkurrenzszenarium, als Alternative auf Augenhöhe mit einem dem Wirken der Marktkräfte verbundenen System betrachtet. Bis zu diesem Punkt hat Neurath Recht.

Nachdem der Erste Weltkrieg in einer zentralisierten deutschen und österreichischen Kriegswirtschaft die praktische Bestätigung für Neuraths Vorkriegstheorien lieferte, wurde der heute weniger bekannte Ökonom in den 1920er Jahren zu einem beachteten Autor. Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Debatten ist bis heute die Überleitungen seiner Kriegswirtschaftstheorie in eine „Theorie der Vollsozialisierung“, nach der die im Krieg vorübergehende und „notgedrungene“ Transformation einer Marktwirtschaft in ein System mit staatlicher Dominanz und vorwiegend zentraler Planung derartige Kraft und Effizienz an den Tag lege, dass damit die Vorstufe oder Blaupause für eine der Marktwirtschaft überlegene sozialistische Planwirtschaft gegeben sei.

Nachdem diese Gedanken in der Theorie lange keine Rolle spielten und durch die Praxis des „realen Sozialismus“ eher als widerlegt galten, tauchen sie in der heutigen, mit einem ganzen Gespinst von Krisen und Konflikten konfrontierten Welt wieder auf.  

Und Mulders bereits zitierte Forderung einer Kriegswirtschaft für einen erfolgreichen Wirtschaftskrieg nach Ausbruch des Ukraine-Konflikts und dessen Begleitung von Sanktionen und Waffenlieferungen fügt sich in das Konzert dieser Beispiele ein.

Heute finden wir „Kriegswirtschaftslehre“ kaum als Spezialdisziplin der Volkswirtschafts-lehre und suchen vergebens nach so benannten Kapiteln in Lehrbüchern und Vorlesungen. Aber Neuraths Ansatz, nicht mit der Konsequenz eines sozialistischen Systems, sondern einer mögliche Oberhand staatlicher Steuerung in einer von Krisen geplagten Marktwirtschaft, ist eine Steilvorlage für aktuell nährbodenreiche Diskussionen zum Primat von Ökonomie oder von Politik oder zum Verhältnis von Markt und Staat – was nicht dasselbe ist.  

Ordnungspolitischer Platz der Kriegswirtschaft

Ein Wirtschaftssystem ist die an wesentlichen Kriterien (z.B. Eigentumsformen, Planungsformen) gemessene idealtypische Art und Weise der Wirtschaftslenkung. (Forner 2022: 101). Bei aller Vielfalt einzelner Ausprägungen tendieren die Merkmale in zwei Grundmodelle: in die Zentralverwaltungswirtschaft und in die Marktwirtschaft. Bei aller Unvereinbarkeit beider Systeme werden mitunter außergewöhnliche und zeitlich begrenzte Mischformen „Mixed Economies“ hervorgehoben. Als bevorzugte Beispiele sind  „Staatskapitalismus“ in China, aber auch die Kriegswirtschaft im Deutschen Reich von 1939 bis 1945 anzutreffen. Ein Mix aus überwiegend privatem Eigentum an den Produktionsmitteln und starker zentraler und politischen Kriterien folgenden Steuerung von Strukturen und Prozessen der Wirtschaft durch den Staat. Zumeist aber wird die Kriegswirtschaft in Zusammenhang nicht mit dem übergreifenden Terminus des Wirtschaftssystems, sondern mit der darunter angesiedelten Wirtschaftsordnung verbunden. Das trägt auch besser ihrem außergewöhnlichen, temporären, lokalen und auf einen Krieg bezogenen Charakter Rechnung.

Unter Wirtschaftsordnung versteht man die zeitlich und räumlich konkrete Gesamtheit aller normativen und institutionellen Rahmenbedingungen, die Wirtschaftssubjekte bei der Herstellung, Verwendung und Verteilung von Gütern vorfinden. (Forner 2022: 101) Die Gestaltung der Wirtschaftsordnung –  Festlegung der Befugnisse von Unternehmen, Haushalten, Zentralnotenbank und Regierung sowie eines entsprechenden Gesetzesrahmens – ist Aufgabe der Ordnungspolitik eines Staates.

Die oben vorgenommene Definition einer Kriegswirtschaft kann auf zwei Kernpunkte reduziert werden: a) auf die Ausrichtung aller wirtschaftlichen Strukturen und Prozesse auf das Ziel einer erfolgreichen Kriegsführung und b) auf den dazu notwendige Übergang von vor allem wirtschaftlichen Kriterien folgenden (dezentralen) unternehmerischen Entscheidungen zu zentralen und politischen und militärischen Erwägungen Rechnung tragenden staatlichen Entscheidungen. Begeben wir uns bei der Benennung dieses Vorgangs auf die systemische Ebene, zum nach rein wirtschaftlichen Nutzens-Kriterien handelnden „homo oeconomicus“, so übergibt dieser vorübergehend das Zepter dem, wenn wir in dieser Begriffswelt bleiben, „homo militaris“. Der logischerweise nicht ausschließlich und nicht vorwiegend nach Kriterien des wirtschaftlichen Nutzens handelt. Mitunter wird in diesem Zusammenhang auch von der Umstellung von einer Friedenswirtschaft (Marktwirtschaft) auf eine Kriegswirtschaft (Mangelwirtschaft) gesprochen.  

Kriegswirtschaften in der jüngeren Geschichte

Als unbestrittene Kriegswirtschaften gelten die Wirtschaften der zentralen Kriegsparteien im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Um zu einer empirischen Basis zu gelangen, sollen ausgewählte dieser Wirtschaften im Folgenden an fünf allgemeinen ordnungspolitischen Merkmalen einer Kriegswirtschaft gespiegelt werden.

  1. Zentralisierung
  2. Produktionsstruktur
  3. Arbeitsmarkt
  4. Autarkie
  5. Geldpolitik

Erstens – Zentralisierung: Hier geht es um eine Veränderung der Steuerung der Wirtschaftsabläufe. Mit der Tendenz von dezentral zu zentral, von Markt zu Staat.

Allgemein wird bei diesem Kriterium der Zentralisierung eine Marktwirtschaft als Ursprungsmodell vorausgesetzt. Anders geartete Sonderfälle sind Kriegswirtschaften, die sich aus einer Zentralverwaltungswirtschaft heraus entwickeln. Dafür gibt es weniger Beispiele. Das wichtigste ist wohl die Umstellung der sowjetischen Wirtschaft unter Stalin vor und mit dem Überfall Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.

Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

  • Ermächtigungsgesetz (04.08.1914): Eingriffe des Bundesrates in die Wirtschaft
  • Kriegsrohstoffabteilung (18.08.1914): Steuerung von Rohstoffengpässen
  • Übergang von Vollmachten der Regierung an Oberste Heeresleitung (OHL)
  • Salpeterkommission (Militär-Wirtschaft): Technologien zum Ersatz von Chilesalpet

Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

  • „Zentralisierungsvorsprung“ durch Krisenmanagement bereits in Vorkriegszeit
  • Kriegswirtschaftsverordnung (04.09.1939): Formaler Rahmen
  • Schlechte Koordinierung und Vernetzung zentraler Kontrollorgane
  • Kompetenzstreitigkeiten: Wirtschaftsministerium – Oberkommando der Wehrmacht

USA im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Zentralisierung zunächst vor Hürden „Legitimierte Gremien“ und „Föderalismus“
  • Durchbruch mit Kriegseintritt im Dezember 1941
  • War Production Board: Zentrale Planungs-, Entscheidungs- und Verteilungsbehörde
  • Vordergrund: Verteilung kriegswichtiger Rohstoffe

Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Sonderfall: Kriegswirtschaft in bereits vorhandener Zentralverwaltungswirtschaft
  • Zentralismus und gesellschaftliches Eigentum bereits seit Industrialisierung 1928
  • Einheit von Parteiführung (KPDSU) und Regierung (Rat der Volkskommissare)
  • Vorher: Kriegskommunismus (1918) und Neue Ökonomische Politik / NÖP (1921)

Zweitens – Produktionsstruktur: Die Umstellung einer Zivilwirtschaft auf eine Kriegswirtschaft ist zwangsläufig mit dem Rückgang der Produktion ziviler Güter (darunter sowohl Konsumgüter als auch Investitionsgüter) zugunsten der Rüstungsproduktion verbunden. Es gilt im Allgemeinen das Prinzip „Rüstungsproduktion so viel wie möglich, Produktion ziviler Güter so viel wie (unbedingt) nötig. Je konsequenter dieses Prinzip durchgesetzt wird, desto kürzer ist, angesichts der langfristigen wirtschaftlichen Schäden und Verwerfungen, die potenzielle Lebensdauer einer Kriegswirtschaft.

Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

  • BIP während des Krieges zwischen 80 und 85 Prozent des Vorkriegsniveaus
  • Unterordnung der Konsumgüterindustrie unter Kriegsökonomie
  • Umstellung ziviler Produktion (Nähmaschinen, Fahrräder etc.) auf Kriegsproduktion
  • Entwicklung des Anteils der Rüstungsaufträge am BIP von 10 % auf 50 %.

Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

  • Zunächst zögerliche Umstellung auf Rüstungsindustrie mit Blick auf Bevölkerung
  • Wandel nach Scheitern Blitzkriegsstrategie / Breitenrüstung im Dezember 1941
  • Ab 1942 Tiefenrüstung (standardisierte Massenproduktion) unter Speer
  • Verdopplung der Rüstungsproduktion von 1942 auf 1943. Anteil am BIP über 50 %

USA im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Hohe Rüstungsproduktion bereits seit 1939 – zur Unterstützung Alliierter  
  • Von Beginn an effektive, standardisierte Massenproduktion (Tiefenrüstung)
  • Wirtschaftswachstum in Jahren 1842 und 1943 bei 17 – 18 %. 
  • Anteil der Militärausgaben am BIP steigt auf bis zu 40 %.

Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Rüstung bei Industrialisierung schon vor Kriegsbeginn als „Überlebensfrage“
  • Industrialisierung zwischen Erfolgsgeschichte und Versorgungsengpässen
  • Tiefenrüstung, Umstellung Produktion (Traktoren zu Panzern) und Ostverlagerung 
  • Anteil Militärausgaben am BIP während des Krieges zwischen 40 und 50 %.

Drittens – Arbeitsmarkt: Veränderungen der Produktionsstruktur haben zwangsläufig Auswirkungen auf ein verändertes Anforderungsprofil der (anders als vorher) produzierenden Unternehmen an Zahl, Qualifizierung und Erfahrung ihre Beschäftigten. Hinzu kommt ein tendenzieller Arbeitskräftemangel durch a) Einberufungen zum Kriegsdienst und b) Aufschwung der Rüstungsproduktion, der in vielen Fällen den Abschwung der zivilen Produktion überkompensiert. 

Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

  • Anfänglich trotz Krieg und wegen Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit
  • Mit Einberufungen und Ausbau Rüstungsproduktion wachsender Personalmangel
  • Arbeitskräfteverlagerung aus ziviler Produktion in Rüstungsindustrie
  • Erhöhung Frauenanteil an Beschäftigung, Zwangsdeportation, Kriegsgefangene

Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

  • Bis 1940 3,4 Millionen Arbeiter zum Kriegsdienst, Rückgang Beschäftigung – 8,6 %   
  • Dennoch Erhöhung Beschäftigungszahl in Rüstungsindustrie um 3,1 %
  • Erhöhung Wochenarbeitszeit, Arbeitszwang, Lohnstopps, Aus für Gewerkschaften
  • Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene für Arbeitsdienst

USA im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Mit Rüstungsproduktion auch Arbeitskräfteknappheit schon vor Kriegsbeginn 
  • Anwerbung von Hausfrauen, Afroamerikanern und verarmten Landwirten
  • Lohn-Preis-Spirale durch staatliche Deckelung („General Max“ 1942) gestoppt
  • Erhöhung Wochenarbeitszeit, Staatlich erwirkter Streikverzicht der Gewerkschaften

Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Arbeitskräfteknappheit durch Kriegsdienst und Rüstungsproduktion
  • Zunehmender staatlicher Zugriff auf Arbeitskonditionen
  • Trotz Personalmangels und Verlängerung der Arbeitszeit kaum Lohnerhöhung   
  • Ausweitung der Zwangsarbeit in Arbeitslagern (Gulags)

Viertens – Autarkie: In Kriegs- und Krisenzeiten wirken sich Unsicherheiten und Störungen im Zulieferbereich empfindlicher auf die Wirtschaft aus als unter Bedingungen politischer und militärischer Entspannung. Das betrifft die Abhängigkeit von Lieferungen aus dem Ausland stärker als aus dem Inland und hier vor allem Länder mit begrenztem eigenem Aufkommen  an Rohstoffen und Energieträgern, aber auch bei Lebensmitteln. Eine Kriegswirtschaft wird daher tendenziell eine stärkere Unabhängigkeit von strategisch wichtigen Rohstoffen aus dem Ausland durch Einsparung oder inländische Alternativen anstreben.

Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

  • Störungen verstärkender Schlüsselfaktor: Britische Seeblockade (1914-1919)
  • Unterbrechung Importlinien bei Rohstoffen (Baumwolle, Kautschuk, Erdöl, Salpeter)
  • Lebensmittel-Ersatzstoffe, Hungersnöte, Krankheiten, Basis Novemberrevolution
  • Erfolge in Forschung, Entwicklung zu alternativen Produktionsverfahren (Chemie)
  • Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)
  • Konzept einer „Großraumwirtschaft“ – Kooperation mit benachbarten Staaten  
  • Nach Überfall auf Sowjetunion Ersetzen durch Plünderungsimporte  
  • Wie im Ersten Weltkrieg: Entwicklung alternativer Produktionstechnologien
  • Rohstoffrückgewinnung, Metallsammelaktionen  

USA im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • USA als große Wirtschaft bei Rohstoffen und Lebensmitteln weniger importabhängig 
  • Lebensmittelengpässe und Rohstoffknappheit nur punktuell
  • Unterbrochener Import von Naturkautschuk aus japanisch besetztem Ostindien  
  • Einschränkung ziviler Autoproduktion. Ford produziert Bomber, Chrysler Panzer

Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Sowjetunion wie USA große Volkswirtschaft mit weniger Importabhängigkeit
  • Bereits mit Industrialisierung Ziel: Unabhängigkeit von kapitalistischem Umfeld
  • Wichtig: Verlagerung Rüstungsproduktion in Gebiete jenseits der Wolga  
  • Rohstofflagerstätten (Erdöl, Erdgas, Kohle) liegen von Natur aus weiter östlich

Fünftens – Finanzpolitik und Geldpolitik: Voraussetzung einer ihrem Auftrag der Preisniveaustabilität gerecht werdenden Geldpolitik ist eine von Entscheidungen der Regierung unabhängige Zentralnotenbank. Die Geschichte zeigt, dass gerade diese Autonomie von Zentralnotenbank und Geldpolitik in einer Kriegswirtschaft durch die Regierung aufgeweicht oder beseitigt wird. Um leichter an Kriegskredite und über diese an Geld zu kommen. Mit der Konsequenz massiver Staatsverschuldung und Inflation. In Deutschland war nach zwei Weltkriegen dabei jeweils die Konsequenz einer vor allem für sozial Schwache ruinösen aber notwendigen Währungsreform verbunden.

Deutschland im Ersten Weltkrieg (1914-1918)

  • Bewilligung Kriegskredite von 100 Mrd. Mark („Gold gab ich für Eisen“)  
  • Keine von Entscheidungen der Regierung unabhängige Reichsbank
  • Höchstpreisverordnung verdeckt und verzögert Inflation durch Geldmengenboom
  • Entladung erst nach Krieg durch „Große Inflation“ und Währungsreform 2023

Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

  • Kriegsfinanzierung wieder weniger über Steuern sondern durch Neuverschuldung  
  • Geräuschlos durch zwangsweisen Ankauf von Staatsanleihen durch Banken
  • Ursprünglich unabhängige Geldpolitik durch Reisbankgesetz (1929) ausgehebelt    
  • Lohn- und Preisdeckel verdecken Inflation. Wiederum Entladung: Währungsreform

USA im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Steuern (mit 45 %) neben Neuverschuldung gleichwertig bei Kriegsfinanzierung   
  • Haushaltsdefizit im Verhältnis zum BIP steigt von 3 % 1940 auf „nur“ 30 % 1943  
  • Trotzdem werden auch in USA Instrumente der Preisdeckelung genutzt   
  • Inflationsrate steigt im Ergebnis auf „moderate“ 7 % 1942/1943

Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (1941-1945)

  • Kriegsfinanzierung wie bei Alliierten durch Staatsanleihen und Steuererhöhungen
  • Hinzu kommt Kreditierungspflicht Beschäftigter mit Teil ihres Einkommens an Staat
  • Bezüge von Waffen und Lebensmitteln aus USA (Lend-Leasing)
  • Rückzahlung Russlands (als Rechtsnachfolger Sowjetunion) bis 2006

Ukraine und Russland: Kriegswirtschaften?

Beim komprimierten Rückblick auf ausgewählte Kriegswirtschaften geht es hier weniger um Wirtschaftsgeschichte als vielmehr um eine seriöse Basis für das Verstehen und Bewerten heutigen Geschehens. Dazu ist zum ersten die konkrete Ausprägung der Merkmale einer Kriegswirtschaft als Maßstab wichtig. Und zum zweiten die Erkenntnis, dass Merkmale und bediente Instrumente in verschiedenen Kriegswirtschaften durchaus ähnlich und vergleichbar sind. Unabhängig davon, auf welcher Seite des Krieges die jeweilige Wirtschaft steht. Damit wird Thesen vorgebeugt, die „Guten“ haben keine oder nur ein bisschen Kriegswirtschaft und die „Bösen“ haben davon ganz viel.      

Vieles und Unterschiedliches ist in der derzeitigen Berichterstattung über den Ukraine-Krieg zu lesen, wenn es um den Zusammenhang der Wirtschaften der kriegsführenden Parteien, ja teilweise sogar der sanktionierenden und Waffen liefernden Dritten mit dem Status einer Kriegswirtschaft geht. In Beiträgen zur aktuellen Situation findet sich der Begriff „Kriegswirtschaft“ im Zusammenhang mit der Wirtschaft der Ukraine kaum. Vielleicht, weil man sie dort anhand der Wirtschaftsdaten ohnehin voraussetzt.  Anders bei Russland, wo einem der Begriff in nahezu jedem Titel explizit entgegentritt: „Russlands Kriegswirtschaft ist teuer“, „Russlands fast perfekte Kriegswirtschaft“ oder „“Russland geht zu einer totalen Kriegswirtschaft über“ sind Stellvertreter einer Vielzahl von Überschreibungen.

Ziel soll es hier sein, Indikatoren aus den geschichtlichen Beispielen, wenn möglich messbare, aufzurufen und zu vergleichen.

Anteil der Militärausgaben am BIP: Hier handelt es sich zweifellos um den aussagefähigsten und vergleichbarsten Indikator. Vereinfacht ausgedrückt sagt er, welcher Anteil all dessen, was in einem Jahr produziert wird, in einer Form produziert wird, in der es für militärische Zwecke zum Einsatz kommt und damit zivilem Verbrauch entzogen ist. Sieht man davon ab, dass in den historischen Ausweisen zum Teil abweichende statistische Bezugsgrößen (Militäretat, Rüstungsproduktion etc.) benutzt werden, bleibt die hier allein relevante Erkenntnis, dass das Verhältnis bei den Hauptakteuren der beiden Weltkriege in der Regel in einem Korridor von 40 – 50 Prozent zu finden ist.        

Schauen wir vor diesem kriegsgeschichtlichen Hintergrund auf eine aktuelle statistische Übersicht zum Anteil der Militärausgaben am BIP bei den zehn Ländern mit den höchsten Militärausgaben im Jahr 2022, dem ersten Jahr des Ukraine-Krieges. Abbildung 1 zeigt diese Übersicht als Grafik.

Als ergänzende Information der Quelle ergänzend vorab: Der weltweite Wert für den Anteil der Militärausgaben am BIP liegt bei 2,2 Prozent. Deutschland weist für 2022 an 17. Stelle einen Anteil von 1,4 % aus.

Abbildung 1 führt allem voran zu einer prägenden Aussage. Im Jahr 2022, dem ersten Jahr des Ukraine-Krieges, liegt mit der Ukraine ein einziges Land mit einem Anteil von 34 Prozent der Militärausgaben deutlich in einem derart hohen Bereich. Einem Bereich, der zumindest annähernd an den Korridor der für die Kriegswirtschaften am Zweiten Weltkrieg beteiligten Länder heranreicht. Alle anderen ausgewiesenen Länder liegen bei einem einstelligen Wert. Russland weist 2022 einen Anteil von 4,1 Prozent aus und ist damit „Tabellennachbar“ der USA mit 3,5 %.

Wie sind die 34,0 Prozent Anteil der ukrainischen Militärausgaben am BIP 2022 zu werten? Es gibt zu einem Wert in dieser Höhe wenig vergleichbare Erfahrungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein gewaltiger Sprung ausgehend von 3 Prozent 2021, einem Wert, der in Abbildung 1 in der guten Mitte gelegen hätte. Hinter einer solchen  Dimension steckt zweierlei: a) eine gravierende Umstellung innerhalb der Wirtschaftsstruktur mit hoher militärischer Priorität (qualitativer Aspekt)  und b) ein Rückgang des BIP als Vergleichsbasis von 2016 Mrd. US-$ 2021 auf 152 Mrd. US-$ 2022 (Statista  2023 b), also um ein Viertel innerhalb eines Jahres (quantitativer Aspekt).

34 Prozent Anteil der Militärausgaben heißen im Umkehrschluss: Für den Verbrauch der zivilen Bevölkerung und für Investitionen in die zivile Wirtschaft verbleiben gerade zwei Drittel der gesamten Produktion. Und das bei einem ohnehin um ein Viertel geschrumpften BIP. Es folgt daraus, dass die ukrainische Wirtschaft, was dieses Verhältnis betrifft, in der Nähe einer Obergrenze angelangt ist, die schwer weiter zu überschreiten sein wird, und die ebenfalls schwer aus Sicht der inneren Stabilität für eine lange Frist beizubehalten ist. Hier schließt sich der Kreis zur notwendigen ausländischen Militärhilfe, die um ein Gleichgewicht an der Front herzustellen, zwei Drittel des gesamten Kriegsaufwandes auf ukrainischer Seite abdecken. Und zur Abhängigkeit der militärischen Position der Ukraine von dieser Hilfe.    

Weitere Indikatoren einer Kriegswirtschaft: Hier soll ein exemplarisches Streiflicht auf Haushaltsdefizite und Inflationsraten genügen.           

Die Staatsverschuldungwird 2022 in der Ukraine durch zwei Faktoren verstärkt. Zum einen durch die zurückgehende Produktion und das damit verringerte Steueraufkommen. Zum anderen wegen des erhöhten Ausgabedrucks in der Rüstung. Das widerspiegelt sich in einem Verhältnis des Haushaltsdefizits von – 16 % 2022 und erwarteten – 21 % 2023 (Statista 2022 c). Bis zum Krieg kommt die Ukraine aus einer soliden Haushaltspolitik mit einem Defizit von selten mehr als – 3 %. Dem EU-Konvergenzkriterium. Gleiches trifft für   Russland zu, dessen Haushalt in manchen Jahren sogar einen Überschuss aufweist. Das ändert sich zwar mit Kriegsbeginn, aber mit – 2% 2022 und prognostizierten – 6 % 2023 nicht nennenswert.  (Statista 2022 c, d). 

Für Inflation ist vondrei potenziellen Kriegs-Finanzierungsquellen – Staatsverschuldung, Steuererhöhung und ausländische Finanzhilfen (im Falle der Ukraine)  – lediglich die Staatsverschuldung wegen der durch sie verursachten Erhöhung der Geldmenge eine Quelle. Es sei denn, ihr wird, wie an einigen Beispielen des Ersten und Zweiten Weltkrieges gezeigt, durch staatlichen Zugriff (Preisdeckel, Lohnstopp) „künstlich“ die Luft abgewürgt. Was aber auch nur temporär möglich ist, sich andere Ventile wie Schwarzmärkte sucht oder sich in aufgestauter Wucht in einer nicht mehr zu vermeidenden Währungsreform Bahn bricht. Die Inflationsraten der Ukraine und Russlands folgen, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Entwicklung, den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in beiden Ländern. Höhepunkt der Geldwertstabilität war 2020 mit Inflationsraten von 3 % (Ukraine) und 3 % (Russland). Ausschläge zeigen sich in den ersten beiden Kriegsjahren 2022 und 2023 (Ukraine: 20 %, 21 %, Russland 14 %, 7 %) und noch stärker 2015 – nach der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 mit 49 % in der Ukraine und 16 % in Russland. (Statista 2023 e, f)

Definitorisches Bekenntnis

Die eingangs formulierte Definition der Kriegswirtschaft enthält Merkmale, die im Anschluss -so oder ähnlich – an wichtigen Kriegswirtschaften der jüngeren Geschichte gespiegelt werden. Es bestätigt sich dabei die in der Literatur unstrittige Tatsache, dass es sich bei Wirtschaften wie denen Deutschlands, der USA oder der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ohne Zweifel um Kriegswirtschaften handelt. Ohne genau zu sagen, warum. Ohne dass die bisherige Definition klare Kriterien, messbare Indizien dafür formuliert, ob eine Wirtschaft Kriegswirtschaft ist oder nicht. Dafür, bei welchen Daten die Grenze zu bestimmen ist, jenseits derer eine zivile Wirtschaft zur Kriegswirtschaft wird.

Offensichtlich liegt hier einer der Gründe, warum so oft frei, ungebunden und gemäß dem jeweiligen Gesamtrahmen und Ziel der Publikation mit dem Begriff der Kriegswirtschaft jongliert und Gefahr gelaufen wird, diesen zu inflationieren. Dem vorzubeugen, bedarf es einer objektiven Bewertung der vorgestellten Merkmale und Indikatoren.  

Unter den abgeschlossenen und ausgewerteten Beispielen der Geschichte wie auch aus dem Blick in die ukrainische und in die russische Wirtschaft während des seit 2022 laufenden Krieges hat sich unter einer Reihe zählbarer Indikatoren einer als der am meisten signifikante herausgestellt: Der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Seine dominierende Rolle ergibt sich aus mehreren Aspekten.

  1. Es handelt sich um ein Kriterium und nicht um eine Gruppe davon, bei der Prioritätensetzungen oder Gewichtungen für Intransparenz sorgen.
  2. Der Anteil der Militärausgaben am BIP ist für alle Fälle (zeitlich wie regional) einheitlich und klar quantifizierbar und damit unbegrenzt als Vergleichsmaßstab geeignet.
  3. Die beiden Basisgrößen sind im Falle des Bruttoinlandsproduktes in der internationalen Statistik eindeutig definiert. Bei den Militärausgaben trifft das zumindest weitgehend zu.
  4. Die Frage danach, wie stark ein Krieg die Wirtschaft beeinflusst (und damit nach Kriegswirtschaft) lässt sich durch keine Kennzahlen besser ausdrücken als durch Militärausgaben (für Krieg) und Bruttoinlandsprodukt (für Wirtschaft).      

So, wie es in der Ordnungstheorie vertreten wird, dass eine konkrete Wirtschaftsordnung nicht mitten zwischen den beiden Wirtschaftssystemen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft liegen kann, sondern in der Summe ihrer Merkmale mehr oder weniger deutlich entweder in die eine oder die andere Richtung weist, ist es vergleichbar auch hier. Alle bisherigen Beispiele zeigen, dass es beim Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf einer Skala von 1 bis 100 keine Gleichverteilung gibt.

Zum ersten scheint die 50-Prozent-Marke eine Grenze zu sein, die von einer Wirtschaft bei Wahrung eines Minimums an Versorgung der Bevölkerung und gesamtgesellschaftlicher Stabilität kaum wesentlich überschritten werden kann.

Zum zweiten weisen die untersuchten Kriegswirtschaften des Zweiten Weltkrieges Anteile der Militärausgaben (oder ihnen nahestehender Größen) am Bruttoinlandsprodukt aus, die in einem Korridor zwischen 40 und 50 Prozent liegen. Eine Proportion, die nur in einer Kriegswirtschaft notwendig, möglich und zu finden ist.   

Im Ukraine-Krieg wurde der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt 2022 für die Ukraine mit 34 Prozent und für Russland mit 4 Prozent (Abbildung 1) ausgewiesen. Auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges 1968 waren es bei den USA 10 Prozent. Bei Nordvietnam, wofür die konkreten Werte schwerer zu finden sind, mit Sicherheit deutlich mehr. Unter den Staaten mit den höchsten Rüstungsausgaben 2022 in Abbildung 1 folgt nach der Ukraine mit 34 Prozent an zweiter Stelle Saudi-Arabien mit 7 Prozent. Und Deutschland mit aktuell 1,4 Prozent ist mit Hilfe des 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr auf dem Weg, die von der NATO erwarteten 2 Prozent zu erreichen.  

Auffällig, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, ist aber, dass auf unserer gedachten Skala durch alle genannten Fälle der Raum zwischen 15 und 30 Prozent überhaupt nicht besetzt ist. Für ihn gibt es keine Beispiele. Was die Ausgangsthese stärkt, dass der Wert für den Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt die Wirtschaften in zivile Wirtschaften und Kriegswirtschaften polarisiert. Das hat nichts damit zu tun, dass auch zivile Wirtschaften mit einer hohen und hochmodernen Rüstungsproduktion wehrhaft und fähig sein können, die Errungenschaften ihrer Gesellschaft zu schützen.

Aber wenn nach den hier gesetzten Prämissen eine Grenze zwischen Kriegswirtschaft und Nicht-Kriegswirtschaft bestimmt werden soll, dann muss diese in diesem Korridor zwischen 15 und 30 Prozent liegen. Mit 25 Prozent scheint eine solche Grenze gut angesetzt. Ein Viertel der Verwendung aller produzierten Güter für Militär und Krieg ist bereits ein Ausnahmewert, der unter regulären Wirtschaften nicht vorkommt, und der der verbalen Definition, dass eine Kriegswirtschaft mit Priorität der Kriegsführung Rechnung trägt, gerecht wird. Sicherlich ist eine solche Grenze ein Orientierungswert und kein technokratischer Dogmatismus. Zumal um ihn herum, wie zu sehen ist, in der Praxis ohnehin wenig passiert. Und dann ist hier der Zeitpunkt, im Zweifelsfall tatsächlich auch auf andere Merkmale der betreffenden Wirtschaft hinzuweisen.

Alle anderen Kriegswirtschafts-Kriterien, Kriterien der zweiten Instanz, sind ebenfalls quantifizierbar, haben begleitenden und ergänzenden Charakter und unterscheiden sich vom Verhältnis der Militärausgaben zum BIP dadurch, dass auf ihre Höhe neben dem Status einer Kriegswirtschaft ungleich mehr weitere Faktoren einwirken, deren Einfluss untereinander sowie von dem einer Kriegswirtschaft schwer zu trennen ist. Nehmen wir einige Beispiele an solchen begleitenden Kriterien. Der Anteil des Verteidigungshaushalts am gesamten Staatshaushalt hängt auch von der Gesamtgröße des Haushalts und damit von der Staatsquote ab.

Das Haushaltsdefizit, die Nettoneuverschuldung, ist nicht nur eine klassische Finanzierungsquelle des Krieges sondern kann auch aus Gründen der Entlastung von Industrie und Haushalten durch einen Strom- und Gaspreisdeckel erwachsen. Dass für viele Kriegswirtschaften aufgrund des Booms in der Rüstungsproduktion hohe Wachstumsraten des BIP macht diese nicht zum Alleinstellungsmerkmal. Sie können auch in der Hochkonjunktur einer starken Zivilwirtschaft erreicht werden. Und eine niedrige Arbeitslosenquote kann auf Einberufungen und Rüstungsaufträge zurückzuführen sein, aber eben auch auf Hochkonjunktur oder, wie in Deutschland, auf Fachkräftemangel.

Abschließend dieser Standpunkt in einigen Schlussfolgerungen und Ergänzungen münden.

Erstens. Krieg ist, auch wenn er sprachlich teilweise in andere Bedeutungen wie „Preiskrieg“ oder „Wirtschaftskrieg“ entführt wird, die geschichtliche Ausnahmeerscheinung einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Völkern und ihren Staaten. Auch wenn es bisher nie gelungen ist, Krieg aus dem Leben der Völker zu verbannen, sollte er, und das muss Ziel jeder Politik sein, die Ausnahme bleiben. Und dies sollte auch die Kriegswirtschaft und der verbale Umgang mit ihr. Dieser Beitrag richtet sich gegen eine wahllose Inflationierung des Begriffes Kriegswirtschaft, wie sie hier in einigen Zitaten gezeigt wurde.

Zweitens. Legt man die hier entwickelte Messlatte an, so ist der Regelfall für eine Kriegswirtschaft die Wirtschaft eines sich im Krieg befindenden Landes. Das zeigen die klassischen Beispiele in der Geschichte der beiden Weltkriege. Es gibt Ausnahmen in beide Richtungen. Zum einen gibt es Kriegsparteien, in der Regel in lokalen Kriegen, bei deren Wirtschaften die hier gesetzten Kriterien für eine Kriegswirtschaft  nicht erfüllt sind. Ohne dass dies in Abrede stellt, dass sich auch in diesen Wirtschaften Proportionen zugunsten des Krieges verschieben. Das betrifft die Wirtschaft der USA im Vietnam-Krieg wie auch im Irak-Krieg mit vorübergehend jeweils rund 10 Prozent Anteil ihrer Militärausgaben am BIP. Was sich darin zeigt, dass das Wort „Kriegswirtschaft“ in Literatur und Medien in diesen Zusammenhängen richtigerweise kaum Verwendung findet. Das betrifft auch die Wirtschaft Russlands, die im Ukraine-Krieg 2022 einen Anteil seiner Militärausgaben am BIP von 4 Prozent ausweist. Was seinerseits in vielen Beiträgen durchaus mit der Verwendung des Begriffes „Kriegswirtschaft“ als vereinbar betrachtet wird.

Ausnahmen in die andere Richtung sind in der Geschichte rarer. Dazu gehört keinesfalls Deutschland, wenn es ein 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr schnürt, die Ukraine mit Waffen unterstützt oder im Rahmen der EU Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Einzige signifikante Ausnahme, und das wurde hier gezeigt, ist die Wirtschaft der Sowjetunion, die mit der Industrialisierung zu Beginn der 1930er Jahre, nicht im Krieg, aber vor dem Krieg und in Erwartung des Krieges, eine Wirtschaft aufbaute, die in weiten Teilen und Schritt für Schritt bereits den Charakter einer Kriegswirtschaft annahm. Ein Ausnahmebeispiel für Kriegswirtschaft am Rande vom kalten Krieg (in dem sich die Sowjetunion bereits in den Vorkriegsjahren mit seinen westlichen Nachbarländern sah) hin zum „heißen Krieg“. In Ansätzen, das wurde gezeigt, trug auch die Rüstungsproduktion der USA für Verbündete im Zweiten Weltkrieg, noch bevor sie diesem selbst beitraten, bereits Züge einer Kriegswirtschaft.

Drittens. Eine Rolle für den Status einer Wirtschaft als „Kriegswirtschaft“, auch im Sinne der hier entwickelten Kriterien, spielt die Dauer eines Krieges, sein Charakter als Blitzkrieg oder als Abnutzungskrieg, sowie die damit zusammenhängende Rüstung als Breitenrüstung oder Tiefenrüstung. Der Irakkrieg der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ begann am 20. März 2003 und dauerte, so die Geschichtsschreibung, bis zum 15. Dezember 2011. Bereits am 1. Mai 2003, also nach wenigen Wochen, erklärte George W. Bush den Krieg für siegreich beendet. Also ein Blitzkrieg im besten Sinne des Wortes mit einer anschließenden jahrelangen Besatzung mit durchaus eingeschlossener militärischer Gewalt. Für eine solche Kriegsstrategie stellt ein Land wie die USA, auch wenn im Jahr 2003 der Anteil der Militärausgaben am BIP kurzzeitig höher gewesen wäre als er war, seine Wirtschaft nicht grundsätzlich auf Kriegswirtschaft um. Ähnliches hatte, wie gesehen, wohl auch Deutschland zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vor, sah sich aber nach dem Dezember 1941 vor Moskau mit der Realität eines langen Abnutzungskrieges konfrontieret.

Ein Fazit daraus ist: Kriegswirtschaft ist zeitlich nach zwei Seiten festgelegt. Der Preis ihrer Einführung ist nicht für einen absehbar kurzen Blitzkrieg gerechtfertigt. In ihrer Dauer ist sie aber auch nicht unbegrenzt ausdehnbar, weil das die Substanz der Wirtschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft überfordert.                                  

Viertens. Die Ukraine, das zeigen der Anteil der Militärausgaben am BIP und auch die Entwicklung der Staatsverschuldung, verfügt im gegen sie auf eigenem Territorium geführten Krieg über eine Kriegswirtschaft. Der Rückgang der Wirtschaft und teilweise widersprüchliche Angaben über den Arbeitsmarkt weisen auf Anomalien gegenüber der Regel in anderen Kriegswirtschaften der Geschichte auf. Um sich diese zu erklären, erscheint es notwendig, einen Umstand in Rechnung zu stellen: Sicherlich haben kriegsführende Parteien auch in der Geschichte waffenmäßige und finanzielle Unterstützung von Verbündenden erhalten. Erinnert sei an die Sowjetunion, Großbritannien oder China im Rahmen des Lend-Lease Act der USA. Die Unterstützung, mit der die Ukraine in die Lage versetzt wird, einen längeren Abnutzungskrieg auf Augenhöhe mit einem wirtschaftlich und militärisch stärkeren Gegner zu führen, ist in dieser Dimension wohl in der Geschichte bisher einmalig. Das hat mehrere Wirkungen. Es stärkt erstens die Ukraine im Krieg, ihr Land zu verteidigen. Es führt zweitens zwangsläufig zur Abhängigkeit der Ukraine vom langen Atem und  der Dauerhaftigkeit dieser externen Unterstützung. Und es führt drittens – und darum geht es hier – zu Formen einer Kriegswirtschaft, die zwar eine Kriegswirtschaft ist, sich aber in einigen ihrer Merkmale von anderen Kriegswirtschaften unterscheidet.

Literatur

Forner, A. (2022 a) Volkswirtschaftslehre, Wiesbaden: SpringerGabler

Hofstetter, M. (2023) Übergang zur Kriegswirtschaft: Soviel gibt Russland für den Ukraine-Krieg aus, Frankfurter Rundschau, 29.08.2023.

Mulder, N. (2022) Russlandsanktionen: „Wer einen Wirtschaftskrieg führen möchte, braucht eine Kriegswirtschaft“, Der Spiegel, 19.07.2022.

Neurath, O. (1913 a) Die Kriegswirtschaftslehre als Sonderdisziplin, Weltwirtschaftliches Archiv, 1. Band (1913), Springer, S. 342-348

Neurath, O. (1913 b) Probleme der Kriegswirtschaftslehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, band 69, Heft 3, Mohr Siebeck, S. 438-501

Pennekamp, J. (2022) Die Ökonomie des Krieges, in Frankfurter Allgemeine vom 20.03.2022.

Statista (2023 a) Anteil der Militärausgaben am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) der 20 Länder mit den höchsten Militärausgaben 2022, April 2023.

Statista (2023 b) Ukraine: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in jeweiligen Preisen 1994 bis 2023, 09.08.2023.

Statista (2023 c) Ukraine: Haushaltssaldo von 1997 bis 2023 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), 08.08.2023.

Statista (2023 d) Russland: Haushaltssaldo 1997 bis 2022 und Prognosen bis 2028 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), 10.08.2023.

Statista (2023 e) Ukraine: Inflationsrate von 1994 bis 2023, April 2023.

Statista (2023 f) Russland: Inflationsrate von 1994 bis 2022 und Prognosen bis 2028, 08.08.2023.


Eine Kurzfassung des Artikels erschien WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik Nr. 199 – Deutschlands Strategien der Unsicherheit. Teil 1 der Serie über „Wirtschaft und Krieg“ erschien in WeltTrens Nr. 198 Globaler Wirtschaftskrieg.

Biografische Angaben Dr. sc. Andreas Forner: geb. 1954, Volkswirt, Hochschuldozent und Managementberater. 25 Jahre Geschäftsführer im bbw Bildungswerk der Wirtschaft in Berlin und Brandenburg. Unter seiner Leitung: Gründung einer privaten Hochschule, Ausbildungsprojekte in China und Italien.


Deutschlands Strategien der Unsicherheit

WeltTrends Heft 199

Vor dem Hintergrund einer schwierigen Sicherheitslage legte die Bundesregierung Mitte des vergangenen Jahres erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie vor, die „mehr Orientierung bieten“ soll, gefolgt von einer China-Strategie und den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Wer jedoch auf eine eigenständige, auf Vermittlung und effektive Rüstungskontrolle gerichtete Rolle des wirtschaftlich stärksten Staates im Zentrum Europas gehofft hatte, der musste sich getäuscht sehen. Folgsam ordnete sich Berlin in die von jenseits des Atlantiks vorgegebene Linie ein.

Im Thema dieses Heftes analysieren unsere Autoren verschiedene Aspekte des Programms, das auf eine Militarisierung von Staat und Gesellschaft hinausläuft und im Grunde auf Feindschaft zu Russland, Systemkonfrontation mit China und Vasallentreue gegenüber den USA gerichtet ist. Festgeschrieben wird das Zwei-Prozent-Ziel und damit eine langfristige Hochrüstung.

Im WeltBlick geht es vor allem um die Neuausrichtung der polnischen Außenpolitik unter der der Koalitionsregierung von Donald Tusk. Ohne eine tragfähige Lösung des Palästinaproblems ist auch die Sicherheit Israels nicht auf Dauer zu gewährleisten – so die Schlussfolgerung der Kommentare im Forum zur Lage im Nahen Osten.

Weitere Informationen sowie die Möglichekeit der Bestellung im WeltTrends-Blog.

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