Ralf Havertz
Konservativer Backlash in Südkorea
Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Südkorea vom 9. März 2022 war knapp. Mit 0,7 Prozent siegte der Kandidat der konservativen Volks-partei (People’s Party) Yoon Suk-yeol vor Lee Jae-myung, dem Kandidaten der gemäßigt linken Demokratischen Partei. Nur fünf Jahre, nachdem die konservative Präsidentin Park Geun-hye wegen ihrer korrupten Machen-schaften des Amtes enthoben und zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden war, haben die SüdkoreanerInnen wieder einen rechten Präsiden-ten gewählt. Von Kritikern ist Yoon, der am 10. Mai sein Amt antreten wird, als Rechtspopulist und Rechtsradikaler bezeichnet worden.
Yoon hat viele Jahre als Staatsanwalt gearbeitet. Beinahe wäre es für den heute 61-jährigen mit der juristischen Laufbahn nichts geworden. Er ist gleich acht Mal in Folge am zweiten juristischen Staatsexamen gescheitert. Im neunten Versuch hatte es 1991 endlich geklappt. Es folgte ein langer und stetiger Aufstieg als Staatsanwalt. Im Jahre 2017 wurde Yoon von Präsident Moon Jae-in in das Amt des Generalstaatsanwalts berufen. In dieser Position zeigte Yoon ein besonderes Gespür für die Verfolgung politischer Gegner, insbesondere von Justizminister Cho Kuk, der im September 2019 angetreten war, das südkoreanische Justizsystem, und hier wiederum vor allem die Staatsanwaltschaft, zu reformieren und ihr etwas von den beinahe unbeschränkten Befugnissen als Verfolgungsbehörde zu nehmen. Diese besonderen Befugnisse waren ein Erbe der Militärdiktatur, in der die Staatsanwaltschaft als politisches Instrument fungierte. Yoon überzog Cho und seine Familie mit einer Reihe von Anschuldigungen wegen Korruption und mit Untersuchungen, die schließlich zu Chos Rücktritt nach nur 35 Tagen im Amt führten.
Auf diese Weise torpedierte Yoon die Reformpolitik von Präsident Moon und wurde gleichzeitig zum Antikorruptionshelden der Konservativen. Die Reform der Staatsanwaltschaft wurde schließlich von Choo Mi-ae ins Werk gesetzt, die Cho als Justizministerin ersetzte. Sie beinhaltet die Einrichtung einer Kontrollinstanz, die die Staatsanwaltschaft überwachen soll, und teilt die Kompetenzen der Strafverfolgung, die bislang exklusiv auf Seiten der Staatsanwaltschaft lagen, zwischen dieser und den Polizeibehörden auf.
Lee, der Kandidat der Demokratischen Partei, hatte vor der Wahl Yoons mit den Worten gewarnt, dass dieser ein System von Staatsanwälten für Staatsanwälte schaffen werde. In der Tat hatte Yoon bereits während des Wahlkampfes angekündigt, dass er die Aktivitäten seines Vorgängers und seiner Mitarbeiter genau unter die Lupe nehmen werde, wenn er ins Amt des Präsidenten gekommen sei. Man darf erwarten, dass er diesen Worten gleich in den ersten Monaten seiner Amtszeit Taten folgen lassen wird.
Enttäuschte demokratische Hoffnungen
2017 und in den zwei bis drei Jahren danach gab es in Südkorea eine demokratische Aufbruchstimmung. Mit der Entfernung Park Geun-hyes aus dem Amt und der Wahl Moons zum Präsidenten schien es möglich, endlich einen Schlussstrich unter das Erbe des rechten Autoritarismus zu ziehen. Viele KoreanerInnen hofften auf die Möglichkeit, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Diese Stimmung trug zum großen Erfolg der Demokratischen Partei bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2020 bei. Mit einem demokratischen Präsidenten im Amt und einer überwältigenden Mehrheit von Sitzen im Parlament (180 von 300 Sitzen) durften die WählerInnen die Umsetzung einer Reihe von Reformprojekten erwarten. Doch die großangelegte Umwandlung von prekären Arbeitsverhältnissen in reguläre Jobs fand nicht statt. Auch die Verbesserung des Wohnungsmarktes, besonders für Mieter, ein weiterer Programmpunkt der Demokraten, ließ auf sich warten.
Der südkoreanische Wohnungsmarkt hat seine Besonderheiten. Eine vierköpfige Familie muss für die Miete einer durchschnittlichen Apartmentwohnung in Seoul (je nach Lage) zwischen 600.000 Euro und 1 Million Euro Kaution zahlen. Viele müssen sich für die Anmietung einer Wohnung extrem hoch verschulden. Mietkautionen liegen in vielen Regionen Südkoreas bei 70 bis 80 Prozent des Kaufpreises einer Wohnung. Das hat dazu geführt, dass viele SüdkoreanerInnen den Besitz einer Wohnung der Miete vorziehen. Die starke Nachfrage nach Wohneigentum wiederum hat zu einem enormen Anstieg der Wohnungspreise geführt.
Zum Anstieg der Wohnungs- und Mietpreise hat aber vor allem die Wohnungsbaupolitik der Moon-Regierung beigetragen. Kim Hyun-mee, von Juni 2017 bis Dezember 2020 Ministerin für Wohnungswesen (das Portfolio des Ministeriums beinhaltet „Land, Infrastruktur und Transport“) hat eine ganze Reihe von Gesetzen eingebracht, die das Wohnen für MieterInnen erschwinglicher machen und der grassierenden Wohnungsspekulation einen Riegel vorschieben sollten. Doch haben viele der Maßnahmen ihrer Behörde den gegenteiligen Effekt gehabt und das Wohnen verteuert. Damit haben die Demokraten viele Mieter verärgert. Moons Regierung hat es aber nicht dabei belassen, es sich mit dieser wichtigen WählerInnengruppe zu verscherzen. Im Jahr 2021 sind die Grundsteuern in Südkorea sehr stark angehoben worden und im laufenden Jahr soll eine weitere starke Steigerung folgen. Für einige BürgerInnen, die mehr als eine Wohnung besitzen, sind danach die Steuern enorm angestiegen. Schon der Besitz von zwei Wohnungen kann (je nach veranschlagtem Wert der jeweiligen Wohnungen) zu Steuern in der Höhe eines durchschnittlichen Jahresgehaltes führen.
Mit dem Vermieten von Wohnungen war nun kein Geschäft mehr zu machen. Tatsächlich haben sich die Wohnungspreise in Seoul gegen Ende 2021 stabilisiert. In einigen Teilen des Landes konnten nach einem jahrelangen stetigen Anstieg sogar sinkende Wohnungspreise verzeichnet werden. Für die MieterInnen und die am Kauf von Wohnungen Interessierten kam diese Entwicklung aber zu spät. Aus Sicht der WohnungsbesitzerInnen gingen die Maßnahmen der Regierung viel zu weit. Die Lage am südkoreanischen Wohnungsmarkt und die damit einhergehende Unzufriedenheit vieler BürgerInnen war einer der Hauptgründe für die Wahl Yoons, der die hohen Grundsteuern bald nach seinem Amtsantritt absenken und damit bei den WählerInnen punkten dürfte.
In Umfragen kurz vor der Wahl sagten nur sechs Prozent, die angegeben hatten, dass sie Yoon wählen wollten, dass sie dies zu tun beabsichtigten, weil sie Yoon für einen kompetenten Kandidaten hielten. Tatsächlich hatte Yoon in den Fernsehdebatten vor der Wahl erschreckende Wissenslücken offenbart. Was seine politische Bildung anbelangt, kämpft er in derselben Liga wie Donald Trump. 64 Prozent gaben an, dass sie Yoon wählen wollten, um einen Wechsel der Regierungspartei herbeizuführen. Es war diese Wechselstimmung, die Yoon über die Ziellinie getragen hat, nicht das Vertrauen der BürgerInnen in seine Kompetenzen.
Ein anderer Faktor, der zu Yoons Wahl beigetragen hat, ist die politische Spaltung entlang der Geschlechter. Über 60 Prozent der Männer zwischen 20 und 30 Jahren haben für Yoon gestimmt. Gleichzeitig haben über 60 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe Lee gewählt. Yoon hat bei den jungen Männern mit dem Versprechen gepunktet, das Frauenministerium abzuschaffen. Die zaghaften Veränderungen hin zur Geschlechtergerechtigkeit gehen vielen jungen Männern zu weit. Sie sehen ihre in der partriarchalischen Gesellschaft Südkoreas tief verankerte Vorzugsstellung bedroht. Yoon hat diesen jungen Männern signalisiert, dass er die Uhr weit zurückdrehen will.
Zurück zum Kalten Krieg
Außenpolitisch hat Yoon sich als Mann der markigen Worte und als Falke inszeniert. So hat er die Stationierung von US-Atomwaffen in Südkorea befürwortet. Solche Waffen waren Anfang der 1990er Jahre von den USA abgezogen worden. Überdies hat Yoon sich für die Installierung weiterer Raketenabwehrsysteme vom Typ THAAD in Südkorea ausgesprochen. Die Einrichtung von THAAD hatte vorübergehend zu einer deutlichen Verstimmung im Verhältnis zwischen Südkorea und China geführt. Das System wurde offiziell zur Abwehr nordkoreanischer Raketenangriffe eingerichtet; tatsächlich lässt sich damit aber auch ein größerer Teil des ostchinesischen Luftraums überwachen.
Es ist schwer abzusehen, wie sich die Wahl Yoons auf das Verhältnis zwischen Nord- und Südkorea auswirken wird. Anzunehmen ist, dass die Konservativen ihre Kalte-Kriegs-Rhetorik wieder aufwärmen, von der man seitens der Moon-Regierung seit 2017 verschont geblieben ist. Es ist Moon Jae-in als großes Verdienst anzurechnen, Ende 2017/Anfang 2018 nicht in das Säbelrasseln eingestimmt zu haben, das seitens des damaligen US-Präsidenten Trump mit Blick auf Nordkorea zu vernehmen war. Während Trump (zunächst) einen Konfrontationskurs fuhr, hatte Moon sich für die Annäherung mit dem Norden entschieden. Das Eis zwischen dem Norden und dem Süden ist aber nur kurzzeitig aufgetaut. Der Norden hatte sich 2017/2018 dem Süden nur für den kurzen Moment geöffnet, in dem es eine unmittelbare Bedrohung seitens der USA für den Norden zu geben schien. Als sich die Lage 2018 nach den Treffen zwischen Trump und Kim Jong-un wieder beruhigt hatte, ist der Norden dazu übergegangen, dem Süden die kalte Schulter zu zeigen.
Fazit
Die Wahl Yoons kann als Rückschritt bewertet werden, gesellschaftspolitisch wie auch außenpolitisch. Ende 2016/Anfang 2017 haben die KoreanerInnen ihre Demokratie gegen eine korrupte Regierungsclique verteidigt und sind zu Millionen für ein Ende der Park-Regierung auf die Straße gegangen. Aus Enttäuschung über die schwache Politik Moon Jae-ins und auch aus Mangel an Alternativen auf der Linken haben sich wieder viele von den Demokraten ab- und den Konservativen zugewandt. Yoon hat als Generalstaatsanwalt und während des Wahlkampfes einige Kostproben seiner autoritären Neigungen gegeben. Es ist zu erwarten, dass er diesen Neigungen folgen wird, sobald er sein Amt am 10. Mai angetreten hat. Noch gibt es im Parlament eine starke demokratische Mehrheit, deren wichtigste Aufgabe es in den kommenden Jahren sein wird, den autoritären Anwandlungen des neuen Präsidenten Grenzen aufzuzeigen.
Der Artikel erschien auch im WeltTrends Nr. 187 Neutralität und Ukraine.
Biographische Angaben: Prof. Dr. Ralf Harvertz, geb. 1965, Politikwissenschaftler, Keimyung University, Daegu, Südkorea, Mitglied im WeltTrends-Beirat, rhavertz@gmail.com. Er publiziert regelmä0ig für WeltTrends – u.a. zum „Abschied vom US-Dollar in den ASEAN-Staaten„, AUKUS (WT 181) sowie regelmäßig zu den Entwicklungen in Südkorea und Asien.
WeltTrends 203 – Welt 21 im Umbruch
Auch dieses Heft widmet sich außen- und sicherheitspolitischen Fragen unserer Zeit. Der Bogen spannt sich von einer Bilanz des Versagens aktueller deutscher Außenpolitik über den Brüsseler Kurs Polens, den Krieg im Nahen Osten, den „reinen Kapitalismus“ des rechten argentinischen Präsidenten Milei bis zur Flüchtlingspolitik von EU und Türkei.
Im Mittelpunkt stehen die Entwicklungen in Eurasien. Dem Übergang „von der transatlantischen zur eurasisch-pazifischen Zentralität“ widmen sich Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy, während es Richard Ghiasy um die Positionen Chinas und Indiens zur asiatischen Sicherheitsordnung geht. Mehrere Artikel beschäftigen sich mit dem weiteren Ausbau der BRICS, insbesondere dem XVI. BRICS-Gipfel in Kasan. Unser russischer Autor Sergej Birjukow und seine chinesischen Kollegen Han Dongtao und Cui Heng sehen in ihm die „Morgendämmerung einer neuen Weltordnung“.