Hans-Jochen Luhmann
Die Entscheidung des Westens für den Ukraine-Krieg: ein globalstrategischer Irrtum der USA
Der Westen und Russland führen seit dem 24. Februar 2022 faktisch „Krieg“ gegeneinander – genau genommen seit dem 23. Februar 2022, da hat der Westen die erste Salve an der Wirtschaftskriegsfront abgefeuert. Beide Seiten vermeiden die Bezeichnung „Krieg“, aus rechtlichen Gründen. Der nicht-rechtlichen Redeweise gebührt im öffentlichen Dialog aber Vorzug, denn nur so kann der Gesamtheit der Implikationen sowie der (eigenen) Verantwortlichkeiten Raum gegeben werden. In diesem Sinne gilt:
Der Krieg wird tripolar asymmetrisch geführt. Militärisch, Russland gegen die Ukraine, geht es full scale beidseits. Daran beteiligt sich der Westen auf der Seite der Ukraine nur begrenzt, er greift nicht als Voll-Alliierter mit eigenen Streitkräften ein. Doch die westliche Beteiligung ist nicht nur peripher, nicht lediglich auf die Lieferung von Waffen und Aufklärungsdaten („intelligence“) beschränkt – die intensive Schulung der Ukrainischen Streitkräfte (UAF) durch UK und USA seit 2017, dem Ende der Obama-Zeit, hat zu einer IT-technischen Kompatibilität geführt, die aktuell höchst vorteilhaft und wirksam ist. Die Kooperation geht hin bis zur gemeinsamen strategischen Gefechtsfeld-Planung.
An der Front des Wirtschaftskrieges hat der Westen weiterhin die Initiative, da ist er es, der systematisch Angriffe gegen Russland plant und ausführt. Auch da gelten die üblichen Gesetzmäßigkeiten eines Krieges,
a) die der Eskalation, also mit Vergeltungsschlägen Russlands; und, anders als auf militärischem Gebiet, werden hier ständig weitere Stufen der Eskalationsleiter erklommen;
b) die der mangelnden Zielgenauigkeit und vor allem Selbstschädigung. Der mangelnden Zielgenauigkeit wegen kommt es zu erheblichen Kollateralschäden global, was die Potentiale für Allianzpartnergewinne für den Westen massiv schmälert. Die Selbstschädigung besteht nicht nur in wirtschaftlichen Schüssen ins eigene Knie, samt den erheblichen Haushaltsbelastungen. Zur Selbstschädigung gehört vor allem, dass es im Westen zu einer erheblichen Einschränkung von rechtsstaatlichen Standards gekommen ist und weiterhin kommt – Wirtschaftskriegsrecht ist eben Kriegsrecht, es ist ein Kampfmittel. Sofern die Attraktivität der westlichen Staaten, nach außen wie nach innen, auf ihrer Verpflichtung auf das Recht basiert, läuft der Westen mit dieser Strategie zunehmend Gefahr, dass seine Politik der Doppelstandards selbstschädigend wird.
1. Die Frage: Wann hat der Westen sich für das Risiko eines Voll-Krieges entschieden?
Gefragt wird hier nach dem Anfang der Malaise. Gefragt wird zudem mit der Unterstellung, dass der Westen nicht lediglich Opfer war, dass der Krieg ihm nicht lediglich „aufgezwungen“ wurde.
Zum Krieg-Führen braucht es schließlich in aller Regel (mindestens) Zwei, es braucht meist den Willen bzw. die Bereitschaft beider Seiten. Fehlt die, dann wird eines Konflikts wegen kein Krieg „geführt“. Dann machen die Parteien sich vorab am grünen Tisch klar, wer die besseren Karten hat – und lösen ihren Konflikt ohne Einsatz von Gewalt.
Gefragt wird somit: Wie mag es gewesen sein, dass der Westen sich entschied, das „Kriegsangebot“ Russlands zu „nehmen“, welches sich im Frühjahr 2022 realisierte?
Einen Konvent des Westens einberufen hat man nicht. Dennoch muss diese Entscheidung getroffen worden sein. Vermutlich war es die der USA alleine, ohne Abstimmung mit den Alliierten (über UK hinaus). Klar ist auch: Die Archive sind nicht geöffnet, die Protokolle der Überlegungen und Verhandlungen sind geheim. Zu etlichen Details kann man nur mutmaßen. Dazu wird hier eine Erzählung vorgelegt. Es mag andere geben. Von einer Antwort auf die Frage danach, welche Erzählung die richtige sein mag, sind wir weit entfernt. Es geht zunächst darum, der Frage Raum zu geben.
2. Das Ergebnis des Krieges aus globalstrategischer Perspektive der USA
Hier wird zunächst vom Ende, vom Ergebnis, her erzählt. Das ist methodisch begründet. Seit der Obama-Präsidentschaft konnten wir aus den USA vernehmen, die USA seien auf dem Weg, sich auf die für sie entscheidende Konfrontation im Konflikt um die globale Hegemonie vorzubereiten, auf die finale Auseinandersetzung mit dem immer potenter werdenden Hegemonialaspiranten China – und das möglicherweise in kriegerischer Form. D.i. die sog. „Pivot to Asia“-Strategie der USA bzw. die sog. Thukydides-Falle. Europa war bereits im toten Winkel der USA verschwunden. In Washingtons Regierungsstellen waren die mit Europa befassten Abteilungen schon länger ausgedünnt worden und die auf den pazifischen Raum bezogenen aufgestockt worden. Selbst ihren eisernen Griff auf die Eingreifkapazitäten der NATO-Migliedstaaten durch Monopolisierung des Kommandozentrums hatten die USA aufgegeben und den Europäern Freiheit signalisiert, ein eigenes, paralleles Zentrum aufzubauen – die Europäer sind den entscheidenden Schritt zur militärischen Autonomie nicht gegangen.
Ende Februar 2022 ist der Krieg in der Ukraine weitenteils völlig überraschend über die deutsche Öffentlichkeit gekommen. Zu dem Zeitpunkt führte Russland den Krieg noch in Form eines Kommando-Unternehmens. Ziel war lediglich ein Regime-Wechsel in Kiew, nicht ein Niederringen des gegnerischen Militärs. Mit der ausgeuferten Kriegsform aber, über die mit Ablehnung des Istanbul-Kompromisses Ende März 2022 entschieden wurde, ist etwas eingetreten, was dem „Pivot to Asia“-Programm der USA und ihren dahinterstehenden geopolitischen Interessen völlig widerspricht. Mit Worten von Bundeskanzlerin Merkel bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2019 formuliert: „Wollen wir Russland nur noch in die Abhängigkeit … von China bringen? Ist das unser europäisches Interesse?“ Das ist offenkundig auch nicht das Interesse der USA.
Das aber ist erfolgt. Die USA haben es zugelassen bzw. geschafft, China und Russland, trotz ihrer erheblichen Grenz- und anderweitigen Konflikte miteinander, in eine Allianz gegen sich zu treiben. Die westliche Sanktionskriegsführung in bislang unbekanntem Ausmaß, insbesondere die Beschlagnahmung der Hälfte der Devisen der Russischen Föderation, hat den Bemühungen, Alternativen zum US-Dollar als handelspolitische Leitwährung zu installieren, erheblichen Aufwind beschert – BRICS ist das Gefäß, innerhalb dessen das nun vorangetrieben wird. Handelssanktionen bringen regelmäßig Kollateraleffekte zum Schaden von (ungefragten) Drittstaaten mit sich, belastet sind erneut Staaten des Globalen Südens. Das US-Projekt der Allianzbildung in Südostasien, gegen China, ist in schwieriges Fahrwasser geraten. Der Kreis der Allianzpartner der USA ist seitdem auf die etwa 60 des Ramstein-Formats begrenzt. Beim ersten „Summit for Democracy“, im Dezember 2021, konnten die USA noch 100 Teilnehmer gewinnen. Zudem lassen die USA erhebliche finanzielle Ressourcen in den Ukraine-Krieg fließen – diese Geldmittel wären im Hinblick auf das eigentliche strategische Ziel der USA weit besser verwendbar gewesen. Soweit das Ergebnis auf der Defizit-Seite.
Dem steht auf der Haben-Seite das regionale Ergebnis in Europa gegenüber. Will man das benennen, dann muss man die US-Strategie nüchtern als das bezeichnen, was sie funktional ist: Eine „boiling the frog“-Strategie (so Oberst Markus Reisner). Nach Vollzug dieser Strategie über mehr als 1,5 Jahre lässt sich résümieren: Die Rolle der USA in Europa ist wieder so groß wie im Kalten Krieg. Europa ist von seinem Autonomie-Ziel weiter entfernt als jemals zuvor. Russlands Armee ist auf Jahre hinaus konventionell massiv geschwächt – einen Angriff mit ihren desolaten Resten hat man in Europa erst einmal nicht mehr zu fürchten.
Weit brutaler haben es drei US-Ex-Botschafter mit Mandaten in Kiew und Moskau (John Herbst, Steven Pifer und Alexander Vershbow) formuliert, in einem Text, für den sie die Unterstützung von 40 weiteren Diplomaten und Sicherheitsexperten der USA, darunter auch vier Ex-Militärs, gewonnen haben. Da heißt es:
“The United States has supplied approximately $76 billion in military and economic aid to Ukraine since the full-scale invasion by Russia on February 24, 2022. Europe has provided approximately $97 billion. With this aid, Ukraine has destroyed approximately 50 percent of Russia’s conventional military capability, making our assistance a smart and economical investment in our security.”
Das kann man durchaus als Erfolge verbuchen. Für die USA aber ist dieses Ergebnis, netto, aus global-strategischer Sicht eher desaströs. Wer in den USA hat das so gewollt? Wieso wurden so rückwärts gerichtete (faktische) Ziele verfolgt? Warum hat die Biden-Administration das nicht verhindert? Welche Rolle haben die Europäer, d.i. Deutschland und Frankreich, dabei gespielt?
3. Hintergrund: Beidseitige Kriegsvorbereitungen in 2021
Im Frühjahr 2019 hatte Wolodymyr Selenskyj, der Schauspieler, der in Moskau studiert hatte, in der Ukraine zwei Wahlen gewonnen, die zum Präsidenten und anschließend mit seiner Partei die Mehrheit im Parlament. Erfolgreich war er mit dem Programm, Frieden mit Russland zu schaffen. Die Verfassungsänderung, welche die Maidan-Revolution der Ukraine gebracht hat, hatte die Machtteilung zwischen Präsident und Parlament eingeführt, Selenskyj konnte mit seinen erstaunlichen Erfolgen stattdessen unitär, aus einer Hand, regieren. Drei Wochen nach Amtsantritt, am 3. Juni 2019, hat Selenskyj seinem Wahlprogramm gemäß verkündet, die Minsker Abkommen umsetzen zu wollen. In den Monaten danach machte er ernst, er übernahm schrittweise sämtliche Forderungen Russlands als ukrainische Position, bis hin zur Akzeptanz der sogenannten Steinmeier-Formel. Selenskyj hat somit den Brandt/Bahrschen Ansatz einer friedlichen Koexistenz unter Sistierung von rechtlichen Status-Fragen nach seiner Wahl, nach Amtsantritt im Mai 2019, versucht – und das dann im Oktober 2020 abgebrochen.
Der doppelte Grund für den Abbruch: (i) Moskau nahm die ausgestreckte Hand Selenskyjs nicht; (ii) Regionalwahlen in der Ukraine im Herbst 2020 hatten gezeigt, dass die Bevölkerung Selenskyjs Kurs gemäß seinem Wahlprogramm nicht länger mittrug. Um bei kommenden Wahlen erfolgreich sein zu können, um seine Macht zu stabilisieren, riss der Präsident das Steuer um 180 Grad herum. Im militärisch materialisierten Ergebnis hat er am 24. März 2021 sein Dekret über die „De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebietes der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ erlassen. Damit war befohlen, dass die Streitkräfte der Ukraine sich umgruppieren und entsprechende Stellungen im Süden vorbereiten, um das im Dekret erwähnte Ziel realisieren zu können. Sie sollten sich für einen „Angriff“ im militärischen Sinne vorbereiten, der nur im völkerrechtlichen Sinne kein „Angriff“ war. Die russische Führung nahm das als letzten Mosaik-Belegstein, dass Kiew nicht mehr beabsichtigte, die politischen Bestimmungen der Minsker Abkommen von 2014/2015 (Regionalwahlen, Sonderstatus für den Donbas) umzusetzen, sondern seine Armee mit westlicher Hilfe darauf vorbereitete, den gesamten Donbas und die Krim zurückzuerobern. Selenskyjs Politikwechsel wurde arrondiert mit einer Reihe von Sonderbündnissen mit Großbritannien, Polen, Litauen und den USA.
Die Ukraine, Polen und Litauen hatten am 28. Juli 2020 bereits das Lubliner Dreieck gegründet – vereinbart wurde u.a. „die Nutzung der NATO-Kapazitäten zur Gewährleistung der Sicherheit in der Region. Großbritannien, Polen und die Ukraine initiierten im Oktober 2021 ein formelles Bündnis, das sie erst am 1. Februar 2022 öffentlich machten. Zweck ist die umfassende, auch militärische Zusammenarbeit zwischen den drei Staaten, Förderung des NATO-Beitritts Kiews und Unterstützung der Ziele der „Krim-Plattform“. Die war am 23. August 2021 formell in Kiew mit der Unterstützung von 47 Staaten und internationalen Organisationen, darunter allen NATO-, EU- und G7-Staaten, aus der Taufe gehoben worden. Sie ruft die Staatengemeinschaft auf, die Ukraine bei der Wiedereingliederung der Krim und Sewastopols zu unterstützen. Am 31. August 2021 schließlich, als letzten Baustein dieser Kette von militärischen Bündnissen, unterzeichneten die Verteidigungsminister der USA und der Ukraine das U.S.-Ukraine Strategic Defense Framework.
Angesichts dieser Vielzahl von Vereinbarungen und Bündnissen westlicherseits wird man schwerlich von einer Fehleinschätzung Russlands sprechen können. Der Westen unterstützte vielmehr explizit und militärisch die Ukraine bei ihren Vorbereitungen, die verlorenen Teile ihres Staatsgebietes zurückzuerobern. Die Zeichen standen auf Krieg. Es war lediglich noch die Frage, wer wann beginnt.
Anders als viele westliche Beobachter, bis hoch zu Bundeskanzler Scholz bei seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Putin am 15. Februar 2022 in Moskau, meinten, war zu dieser Zeit weniger die politische Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine das drängende Problem, welches Russland sicherheitspolitisch beunruhigte, als vielmehr das Vorrücken militärischer NATO-Strukturen in der Ukraine, die faktische Befähigung der ukrainischen Streitkräfte. Das ist es, was der französische Doyen der sicherheitsberatenden Community, Bruno Tertrais, zeitgenössisch in dem schönen Wortspiel ausgedrückt hat: Nicht „Ukraine in NATO“ sei das Problem, sondern „NATO in Ukraine“ bereite den russischen Militärs schlaflose Nächte.
Den im April 2021, als Großmanöver (SAPAD) getarnten, gestarteten Aufmarsch russischer Verbände an der Grenze der Ukraine kann man oder muss man wohl als militärische Reaktion auf diese Willensbekundung der ukrainischen bzw. westlichen Seite verstehen. Russland ließ an der Grenze zur Ukraine rund 120.000 Soldaten aufmarschieren. Mitte Juni 2021 bereits war das vollzogen, es gab auch Rückzugsforderungen seitens der USA, und Russland hat dem auch entsprochen, allerdings nur teilweise, das schwere Gerät blieb grenznah disloziert.
Die Zahl der bereitgestellten Kräfte ergab sich aus der Begrenzung, dass allein Berufs- und Vertragssoldaten eingesetzt werden sollten, und nur in Ausnahmefällen Wehrpflichtige. So konnte dem innenpolitisch motivierten Anspruch entsprochen werden, dass es sich um eine „militärische Spezialoperation“ der Profis handelte und nicht um einen Krieg, der die russische Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen würde. Die russischen Landstreitkräfte umfassten am Vorabend des Krieges einen Personalumfang von insgesamt 360.000. Mehr militärisches Personal als die etwa 120.000 Aufmarschierten, die in den ersten Kriegswochen auf circa 150.000 aufwuchsen, war nicht abziehbar, wollte man nicht anderswo riskante Sicherheitslücken aufreißen.
Die russischen Angriffskräfte waren der ukrainischen Armee von Anfang an personell unterlegen. Deren Friedensstärke lag im Februar 2022 bei etwa 260.000 Angehörigen der regulären Streitkräfte und der Nationalgarde, die sich überwiegend aus den im Donbas kampferprobten Freiwilligenbataillonen zusammensetzte. Zu Kriegsbeginn standen Kiew bis zu 900.000 Reservisten zur Verfügung. Aus der Zivilbevölkerung wurde nach kurzer Ausbildung die leicht bewaffnete Territorialverteidigung aufgestellt (etwa 350.000).
Das begrenzte Konzept des russischen Angriffs lässt sich aus den bereitgestellten Ressourcen ableiten. Mit der Kräftekonstellation, mit der Moskau im Februar 2022 antrat, war kein Kampf zu führen, um die ukrainischen Streitkräfte entscheidend zu schlagen. Also war das auch nicht das Ziel der russischen Vorgehensweise. Deren Vorstöße im Osten und Süden zielten darauf ab, Gebiete mit überwiegend russischsprachiger Bevölkerung in Besitz zu nehmen, in der Erwartung einer zustimmenden Übergabe – was sich teilweise (unerklärlich leichter Dnepr-Übertritt bei Cherson) auch so einstellte. Der Angriff im Norden auf die Hauptstadt Kiew verfolgte den Zweck, einen Regimewechsel in Kiew zu erzwingen.
4. Time-line 1: Das Treffen in Genf am 16. Juni 2021
Aus dem Faktum des Krieges schließe ich, dass die USA „entschieden“ haben, es in der Ukraine ggfls. zum Krieg kommen zu lassen. Innerhalb der Biden-Administration muss sich dies nach Amtsantritt im Januar 2021so herausgebildet haben.
Es war aber selbstverständlich auch eine Entscheidung, die sich in der Kommunikation mit dem allfälligen Kriegspartner, Russland, herausgebildet hat. Deswegen sind die beiden Gipfelbegegnungen, die die Präsidenten Biden und Putin im Laufe des Jahres 2021 hatten, von zentraler Bedeutung. Man traf sich persönlich am 16. Juni 2021 in Genf und abschließend per Video-Schalte am 7. Dezember 2021.
Deutschland, Führungsmacht im Normandie-Format, unter Bundeskanzlerin Merkel noch, befand sich im Juni im Wahlkampf, Frau Merkel war faktisch nur noch geschäftsführend im Amt. Deutschlands Politik kreiste in diesen entscheidenden Monaten um sich selbst. Exakt am 7. Dezember 2021 trat der neue Bundeskanzler sein Amt an – da war alles zu spät, waren die Entscheidungen bereits gefallen, war nichts mehr aufzuhalten. Das nach solchen Gesprächen übliche Briefing der Top-Alliierten durch den US-Präsidenten hat am 7. Dezember noch Frau Merkel entgegengenommen.
Entscheidend müsste das Gespräch in Genf gewesen sein. Es dauerte lediglich zwei Stunden. Es gab auch einen Erfolg, allerdings allein im bilateralen Verhältnis: Es gab eine Vereinbarung zur kooperativen Verfolgung des Themas „strategische Rüstungskontrolle“, also zu einem Sujet, bei dem die Europäer außen vor sind. Entsprechende Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, ein Arbeitsplan verabredet.
Was Präsident Biden bei seiner Presskonferenz in Genf und in seinen folgenden Briefings mit den Partnern in Europa signalisierte, war: Er, Biden, strebe nach “Vorhersagbarkeit“ in der beidseitigen Beziehung, sodass sie kooperieren könnten bei Themen gemeinsamen Interesses. Seine Bestätigung des US-Abzugs aus Afghanistan, den Präsident Trump angeordnet hatte, so Präsident Biden, sei in diesem Sinne zu verstehen. Die Botschaft konnte man so hören: Die USA wünschten ihre außenpolitische Energie auf ihren Hauptherausforderer, China, zu konzentrieren und dabei nicht abgelenkt zu werden durch andere Konflikte in Europa und Asien.
Was genau im Gipfel-Gespräch zum Konflikt in Europa, um die Ukraine besprochen worden ist, ist öffentlich unbekannt. Es ist aber schwer nur vorstellbar, dass der konfrontative Vorgang der beidseitigen Kriegsvorbereitung seitens Russlands und der Ukraine ausgespart gewesen sein mag. Wie kann man erschließen, was da gesprochen wurde?
Meine methodische Vorgehensweise auch zu dieser Frage geht vom Ende her. Vom Gipfel-Gespräch am 7. Dezember 2021 wissen wir, dass da auch sehr grundsätzlich über den Konflikt um die Ukraine und die Sicherheitsordnung in Europa gesprochen wurde. Da war es für den Westen aber schon zu spät, einen grundsätzlichen Stellungswechsel zur Kriegsverhinderung überhaupt noch in den Blick zu nehmen. Ich schließe aus der Gesprächsanlage, dass die Position bzw. Forderung Russlands an die (militärische) Ukraine-Politik des Westens und zur Neujustierung der Sicherheitsordnung in Europa in den Grundzügen bereits am 16. Juni von russischer Seite so vorgetragen wurde, wie es ein halbes Jahr später öffentlich wurde. Damals aber, so die Vermutung, wurde es von den USA als Verhandlungsgegenstand abgelehnt. Die Welle von militärischen Bündnissen, die danach, im Spätsommer 2021 erst, mit der Ukraine geschlossen wurden, fände so eine Erklärung. Man bereitete die Ukraine und sich selbst verstärkt auf den kommenden Krieg vor.
5. Time-line 2: Das digitale Treffen am 7. Dezember 2021
Am 7. Dezember dann scheint der drohende Einmarsch in die Ukraine das beherrschende Thema gewesen zu sein, so berichtete US-Sicherheitsberater Sullivan hinterher: „Mr. Biden had offered Mr. Putin the choice between a diplomatic solution and the severe economic and political consequences that would follow a Russian invasion of Ukraine.“ Die Abschreckung/Androhung zu diesem Zeitpunkt war somit allein mit Waffen der Wirtschaftskriegsführung formuliert. Wozu der Westen sich dann ab Ende März 2022 entschloss, die militärische Unterstützung, war damals noch nicht auf dem Tisch.
Russlands Präsident wird seinen vorbereiteten Vereinbarungsentwurf am 7. Dezember mit seinem US-Counterpart in den Grundzügen erörtert haben. Das Angebot der russischen Seite ist bekannt, denn am 15. Dezember 2021 unterbreitete Moskau den NATO-Staaten und den USA die Vertragsentwürfe förmlich.
Inhalt ist: Die USA sollten den seit etwa 15 Jahren vorgetragenen Sicherheitsbedenken Russlands entsprechen; und sie sollten sich an die Vereinbarung unter dem KSZE/OSZE-Dach halten, wonach kein Staat seine Sicherheit zum Nachteil der OSZE-Partner erhöhen dürfe. Konkret: Der Westen sollte auf eine weitere Ausdehnung nach Osten verzichten, also keine Aufnahme der Ukraine in die NATO und auch darauf verzichten, deren militärische Infrastruktur zu nutzen, um dort Truppen und weitreichende Waffensysteme zu stationieren. Die NATO solle sich an die Zurückhaltungserklärung der NATO-Russland Grundakte vom Mai 1997 rückwirkend halten und die später errichtete militärische Infrastruktur in den Beitrittsländern zurückziehen. Also zurück zum Konsens zur Sicherheitsordnung in Europa von vor gut 15 Jahren.
Biden muss sich somit von seinem Partner mit Worten etwa dieses Sinnes verabschiedet haben: Gut, senden Sie uns mal Ihre strategischen Revisions-Vorstellungen schriftlich – aber dass wir zu Ihren sehr weitgehenden Revirement-Vorstellungen diplomatisch in so kurzer Frist zu einer Einigung kommen, dass dies die Lokomotiven, die Sie an den Grenzen der Ukraine unter Dampf gesetzt haben, noch aufzuhalten vermag, dafür kann ich Ihnen wenig Hoffnung machen. Bilaterale Telefonate am 30. Dezember 2021 und am 12. Februar 2022 änderten nichts mehr am Lauf der Dinge.
6. Mögliche Abwägungen seitens der USA
Erhellend für die strategischen Vorstellungen im Verhandlungsansatz Putins ist ein Hinweis aus indischen diplomatischen Quellen (Ambassador. P.S. Raghavan). Demnach sei das Verständnis Russlands gewesen: Die USA wollen gen China ziehen und sich dafür auf dem europäischen Kontinent entlasten. Das habe bedeutet: Die sicherheitspolitischen Differenzen auf diesem Kontinent beilegen; den sicherheitspolitischen Vorstellungen Russlands also weitgehend entgegenkommen. Von dieser Bereitschaft sei Russland ausgegangen, im Nachvollzug des US-seitigen Kerninteresses.
In einer Abwägung mit dem „Pivot to Asia“-Anliegen, ihrem in Genf kommunizierten Anliegen, wäre das für die USA ein rationaler Kompromiss gewesen. Was mag der Grund für die USA gewesen sein, in dieses Angebot nicht positiv einzusteigen?
Klar ist: Im Dezember 2021 war der Boden für eine so weitreichende realignment-Entscheidung völlig unvorbereitet. Ein solch weitreichender Kompromiss aus heiterem Himmel hätte etliche Partner in Europa völlig vor den Kopf gestoßen. Dass Präsident Biden darauf zu diesem Zeitpunkt nicht mehr eingehen konnte, ist klar. Die Frage ist eher: Warum hat er den Ball nicht frühzeitig, beim letzten gemeinsamen persönlichen Treffen am 16. Juni 2021 in Genf, aufgenommen? Präsident Putin wird dieses Anliegen dort bereits vorgetragen haben. Wenn Präsident Biden gewollt hätte, dann wäre Zeit zur mentalen Vorbereitung im Kreis der Alliierten gewesen.
Es scheint somit, dass der US-Präsident nach Genf gereist ist mit einer Entscheidung, die er nach Amtsantritt getroffen hatte: Die Politik seines Vorgängers, Donald Trump, die für Russland konfrontative militärische Unterstützung der Ukraine durch die USA zu betreiben, beizubehalten. Trump hatte die finanziell und waffentechnisch hochgefahren und mit einer offenherzig provokativen Programmatik unterlegt: Doppeltes Ziel sei, (1) die ukrainischen Streitkräfte NATO-kompatibel zu schulen und auszurüsten und (2) sie zu befähigen, die „territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren“ – da die verloren gegangen war, hieß das: Sie zu befähigen, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Das ist militärisches Zündeln. Das behielt Biden bei.
Man fragt sich, was das Kalkül des erfahrenen Außenpolitikers Biden gewesen sein mag, dass er Trumps Zündel-Strategie beibehielt und Putins Vorschlag für ein weitreichendes realignment ablehnte. Dass Trump ein Nero-artiger Zündler war, ist bekannt – aber Biden?
Die einzige zu erwägende Hypothese, die das erklären könnte, ist: Die USA hatten die Abschreckungs-Androhung Russland gegenüber noch am 7. Dezember 2021 auf „ökonomische und politische Sanktionen“ begrenzt und gingen bekanntlich, trotz der objektiven Zahlenverhältnisse der Truppen Russlands und der Ukraine, von einem Erfolg des russischen Angriffs im Sinne des Erst-Konzeptes aus, im Sinne eines Regime Chance in Kiew. Eine militärische Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen oder gar die Perspektive, dass es zu einer desaströsen militärischen Langfrist-Auseinandersetzung käme, standen nicht im Raum. Dann, in diesem Szenario, wären die geopolitischen Kollateralschäden im Hinblick auf die „Pivot to Asia“-Strategie der USA recht begrenzt ausgefallen, in Abhängigkeit von den Sanktionen, die der Westen auch dann erlassen hätte.
Wenn es so gewesen wäre, könnte man feststellen: Die USA unter Biden sind im Verlaufe des Jahres 2021 zwar eine Hoch-Risiko-Strategie gefahren, indem sie eine strategielose Entscheidung der Trump-Ära haben weiterlaufen lassen. Der geostrategische Crash der USA ist somit nicht mit ihren Entscheidungen im Jahre 2021 losgetreten worden, mit der Verweigerung einer Einigung mit Russland. Er ist vielmehr erst im Jahre 2022 eingetreten.
Da ist Zweierlei passiert.
- Im Januar 2022 begannen die USA im großen Stil manngestützte Javelin Panzerabwehr-Raketen nach Kiew zu liefern, die sich dann im Kampf gegen die von Norden auf der Straße vorrückenden Verbände der russischen Armee als Waffen aus dem Hinterhalt so desaströs erfolgreich erwiesen. Die da gelieferte militärische Ausrüstung umfasste weit mehr, von Nachtsichtgeräten bis zu AeroVironments „Switchblade“ Angriffs-Dronen. Auch stationierten NATO-Staaten Raketen-tragende Kriegsschiffe und strategische Bomber in und über dem Schwarzen Meer.
- Mitte bis Ende März 2022 haben die USA / der Westen der Ukraine in einer Kurzfrist-Entscheidung Zusagen gemacht, die bis heute unbekannt sind und die in früheren Zeiten in ausführlichen Geheimabsprachen von militärischen Bündnissen ausformuliert worden wären.
Damit haben die USA die zweite Phase des Krieges zugelassen um nicht zu sagen provoziert. Zeitpunkt muss die Woche rund um den Entwurf eines Waffenstillstands-Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland am 29. März 2022 in Istanbul gewesen sein. Damit war die Entscheidung der USA gefallen, der Ukraine Unterstützung für eine volle und langwierige militärische Auseinandersetzung mit Russland, dann im Modus wie aus dem 1. Weltkrieg bekannt, zuzusagen.
Auch äußere Anzeichen sprechen dafür, dass diese Entscheidung der USA in der zweiten März-Hälfte 2022 nicht strategisch unterlegt war. Es scheint sich um eine Bauchentscheidung mit Setzen auf einen schnellen Sieg gehandelt zu haben. Freud lässt zudem grüßen: Bidens Ausrutscher beim Warschauer Treffen am 28. März 2022, „Putin cannot remain in power“ wird ihm nicht von ungefähr passiert sein.
Biografische Angaben: Dr. Hans-Jochen Luhmann, geb. 1946, Mathematiker und Ökonom, Emeritus am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie; Mitglied im Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, Studiengruppe „europäische Sicherheit und Frieden“. jochen.luhmann@wupperinst.org
Eine gekürzte Fassung des Artikel erschien auch im Heft 200 – Multipolare Geopolitik.
WeltTrends 200 – Multipolare Geopolitik
Die Weltpolitik, die zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, ist heute angesichts globaler Veränderungen und Herausforderungen als analytische Kategorie aktueller denn je. Im Thema betont unsere chinesische Autorin Yuru Lian die drei Besonderheiten der chinesischen Geopolitik: die innere Orientierung, das Bestreben, sich auf das nachbarliche Umfeld zu stützen, sein immer mehr über die staatlichen und regionalen Grenzen hinausgehender weltpolitischer Einfluss. Auf die volle Übernahme neokonservativer Ideologie in Deutschland verweist Petra Erler. Weitere Autoren beschäftigen sich unter anderem mit den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen (Roland Benedikter), dem Ukrainekrieg und seinen Folgen für Russland (Kerstin Kaiser) sowie zum Wesen des Wirtschaftskrieges (Andreas Forner).
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