Kerstin Kaiser
Der Ukrainekrieg und seine Folgen für Russland
Bald nach Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeichnete sich ab, dass keines seiner tatsächlichen oder vorgeblichen Kriegsziele militärisch erreicht werden kann: Weder wurde die NATO-Ausdehnung gestoppt, noch wurde der ukrainische Nationalismus geschwächt und sein Einfluss auf die Politik der Ukraine beendet.
Offiziell wollte man in der Ostukraine ethnische Russen schützen und deren Territorien und die Krim endgültig eingliedern. Nach über zwei Jahren belasten Hunderttausende getötete ukrainische wie russische Soldaten und Zivilisten und zerstörte Gebiete mit allen ökonomischen und ökologischen Folgen das Schuld-Konto der Russischen Föderation, deren Führung zudem ihr eigenes Land und dessen Ansehen ramponiert hat. Realistisch ist ein Szenario, bei dem Russland nach einem Ende der Kämpfe aus dem Krieg geschwächt herauskommt: politisch instabiler und autoritärer, sozial und regional tiefer gespalten, militärisch enger umstellt, mit weniger internationalem Einfluss.
Die Bevölkerung, die Familien bezahlen diesen Krieg mit dem Leben der Soldaten. Wie schon in den acht Jahren des sogenannten „Bürgerkrieges“ in der Ostukraine sind dessen Ereignisse und Spuren von Anfang an auch in den grenznahen Gebieten im Westen Russlands sichtbar. Wie hoch Verluste und Brüche im Land noch werden, hängt von der Dauer des Krieges ab.
Innenansichten als Momentaufnahmen
Im Oktober 2023 behaupteten bei Umfragen des regierungsunabhängigen Lewada-Zentrums noch 83 Prozent der Befragten in Russland, dass sie in „guter bis normaler Stimmung“ leben, nur 17 Prozent verspüren „Unruhe und Ängste“. Dabei sind junge Leute unter 24 Jahren mit 13 Prozent weniger besorgt als die Älteren über 55 Jahren mit 27 Prozent. Gutsituierte sind zu 84 Prozent zufrieden und nur zu 12 Prozent beunruhigt. Bei Menschen, die sich mit ihrem Einkommen gerade so Essen und Kleidung leisten können, ändert die Kriegssituation für 83 Prozent nichts, 14 Prozent fühlen sich beunruhigt. Die Zahlen halten sich seit einem Jahr auf diesem Niveau. Der Zustand des Landes im Krieg scheint inzwischen als Normalität empfunden zu werden, dem die Bevölkerung sich angepasst hat.
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Der Artikel erschien auch im Heft 200 – Multipolare Geopolitik.
Biografische Angaben: Kerstin Kaiser, geb. 1960, Diplomslawistin, 2016 bis zu dessen Schließung durch die russischen Behörden 2022 Leiterin des Auslandsbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau. kkaiser@mailbox.org
WeltTrends 200 – Multipolare Geopolitik
Die Weltpolitik, die zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, ist heute angesichts globaler Veränderungen und Herausforderungen als analytische Kategorie aktueller denn je. Im Thema betont unsere chinesische Autorin Yuru Lian die drei Besonderheiten der chinesischen Geopolitik: die innere Orientierung, das Bestreben, sich auf das nachbarliche Umfeld zu stützen, sein immer mehr über die staatlichen und regionalen Grenzen hinausgehender weltpolitischer Einfluss. Auf die volle Übernahme neokonservativer Ideologie in Deutschland verweist Petra Erler. Weitere Autoren beschäftigen sich unter anderem mit den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen (Roland Benedikter), dem Ukrainekrieg und seinen Folgen für Russland (Kerstin Kaiser) sowie zum Wesen des Wirtschaftskrieges (Andreas Forner).
Um aktuelle regionale Probleme geht es im WeltBlick: die Konflikte zwischen Venezuela und Guyana (Raina Zimmering) und zwischen Armenien und Aserbaidschan (Philip Ammon) sowie das Abkommen über die Falepili-Union zwischen Australien und Tuvalu (Oliver Hasenkamp).
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