Hans-Heinrich Nolte
Clauswitz Redivivus – Zur Fortsetzung des Krieges in der Ukraine
Die Friedensbewegung ging von der Erfahrung des 2. Weltkriegs aus, dass moderner Krieg sich mit der der Genfer Konvention zugrunde liegenden Trennung zwischen Zivilisten und Militärs nicht vereinen lässt. Die nationalsozialistischen Massenmorde gehören in eine andere Kategorie,[1] aber wichtig ist hier, dass der angelsächsische Bombenkrieg ab 1942/3 eben diese Trennung nicht mehr aufrecht erhielt.[2] Während des Kalten Kriegs war außerdem die Drohung eines Atomkriegs allen gegenwärtig. In dieser Periode fanden Anhänger gewaltloser Verteidigung wie Theodor Ebert[3] für ihr Konzept viele Anhänger, und skeptischere Autoren konnten (mit einem Rückblick auf die Geschichte der Forderungen nach Gewaltlosigkeit seit dem Jainismus vor etwa 2.500 Jahren) einen Mix vorschlagen.[4]
Der Rückzug der UdSSR aus ihren Machtpositionen in Mitteleuropa sowie die Aufspaltung der UdSSR in Nationalstaaten ab 1989 bildet zurecht den Epochenübergang für eine neue Periode nicht nur in politischer, sondern auch in ökonomischer, sozialer und intellektueller Hinsicht. [5] Die Hoffnung war begründet, dass dies eine Periode des Friedens werden würde, die sich auf Gorbatschow berufen konnte; auch hatte Russland in Budapest 1994 die Grenzen der Ukraine anerkannt.[6]
Allerdings blieb das System der Mächte[7] nach wie vor durch militärische Interventionen geprägt [8] und die Rüstungsausgaben insbesondere der USA blieben hoch [9]. Mit dem 2.Irakkrieg haben die USA und die „Koalition der Willigen“ die pazifistische Interpretation durch den Einsatz von Militär ohne Votum des Sicherheitsrats verlassen, wie durch die Intervention gegen Serbien zugunsten des Kosovo.[10] Russland hat von Süd-Ossetien bis Trans-Nistrien mehrfach im Rahmen des früher sowjetischen Machtbereichs militärisch interveniert; jüngstes Beispiel ist der russische Angriff auf die Ukraine.[11] Da das Zurückweichen der UdSSR unter Gorbatschow einer der Gründe für die Hoffnung auf eine „Friedensdividende“ war, bedeutete Russlands Griff zu den Waffen auch das Ende dieser Hoffnung. [12]
Zu den Charakteristika der Periode nach 1989 gehörte entsprechend nicht der erhoffte Schritt in Richtung der allgemeinen Entmilitarisierung, sondern die Remilitarisierung. Wer sich mit pazifismusnahen Positionen identifiziert hatte, stand und steht nun vor einem Problem – ohne Entwurf einer humaneren Gesellschaft kann man nur schlecht human und jedenfalls nicht humanistisch handeln, aber man muss auch kontrollieren, bis wohin dies Handeln trägt oder eben nicht. Folgt man dem Entwurf ohne Kontrolle an der Realität, verliert man den Boden zum Handeln – auch in der demokratischen Gesellschaft. Deren intellektuelle Grenzen hat schon Tocqueville am amerikanischen Beispiel beschrieben,[13] und auch im 21. Jahrhundert wird In Demokratien Denken, dass sich zu weit von der Mehrheit entfernt, schnell in Marginalisierung gedrängt. Man sollte aber von den Mächtigen die Einhaltung jener Regeln verlangen, die Konsens oder sogar schriftliche Konvention sind.
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Über die aktuellen Kriege wird manchmal so geredet und geschrieben, als gehe es um bloßes Rechthaben und Projektionen. Das erinnert an Legitimationen wie die, man könne Krieg mit dem Ziel führen „to end all wars“ – obgleich dieses Kriegsverständnis sich schon am Ende des 1. Weltkriegs als unrealistisch herausgestellt hat,[14] da es allein auf der Projektion des vollständigen Siegs der einen Seite beruht.
Krieg ist aber ein eigener Erfahrungsraum, in dem Unerwartetes geschieht. Totale Siege sind selten. Der „Westfälische Frieden“ von 1648 beruhte z.B. darauf, das alle Seiten noch über Macht verfügten. Die Niederlage der Achsenmächte 1945 war in der Tat total, was aber nicht nur auf der Irrationalität beruhte, mit welcher Deutschland seine Machtmittel einsetzte, sondern auch darauf, dass die Atombombe nur dem Sieger – genauer: nur einem der Sieger – zur Verfügung stand. Da das heute nicht der Fall ist – und niemand im Ernst einen Atomkrieg führen will – ist die internationale Lage wieder dahin „normalisiert“, dass ein totaler Sieg einer Seite kaum denkbar ist. Konkret heißt das im Ukrainekrieg, dass weder die Machtbasis Russlands noch die der USA (bzw. der anderen Atommächte) von anderen Atommächten angegriffen werden kann.
Die völkerrechtliche Konvention, auf welche die Sieger sich 1945 einigten, war aber nicht, dass kein Krieg mehr geführt werden würde, sondern dass Angriffskriege nur mit Zustimmung des Sicherheitsrats geführt werden dürfen.[15] Diese Rechtsposition wurde von den Mächten zwar früh in „Stellvertreterkriegen“ umgangen und nach 1989 von den USA und Russland verlassen und der russische Angriff auf die Ukraine bietet das jüngste Beispiel in dieser Reihe.[16] Wenn aber die Vetomächte den Angriffskrieg wieder unter ihre politischen Möglichkeiten rechnen, dann sollten auch die klassischen Regeln der Kriegführung wieder gelten, voran die Grundregel, dass die Mittel dem Zweck bzw. der Zweck den Mitteln entsprechen müssen.
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Dieser Sachlogik folgend ergeben sich im Mai 2024 drei Punkte für den Krieg in der Ukraine:
- Man sollte also wieder Clausewitz lesen[17]. Clausewitz beschreibt Verteidigung als „stärkere Form des Krieges“, was ja der aktuelle Ukrainekrieg bestätigt (kein russischer „Blitzkrieg“, aber auch keine bedeutenden ukrainischen Rückeroberungen gegen die russischen Stellungen). Der preußische General, dem der Feldzug von 1812 vor Augen stand, ging davon aus, dass der Verteidiger am Ende des feindlichen Vorstoßes gegen den Angreifer das „blitzende Vergeltungsschwert“ zückt. Ist die Ukraine zu einem solchen Szenario bereit, sich z.B. einem russischen Vorstoß auf Kiew hinhaltend entgegen zu stellen, in der Hoffnung, dass die Verluste des Feindes noch höher sein werden als die eigenen, und dass „die Offensivkraft des Gegners“ sich vor oder in der Hauptstadt „erschöpft hat“ [18]? Will Russland eine solche Entscheidungsschlacht?
- Oder verfügen diejenigen im Westen, die für eine Fortsetzung des Kriegs so große Worte finden, über die militärischen Mittel, die sie der Ukraine übergeben, um die Rückeroberung der besetzten Teile des Landes zu ermöglichen? Dabei geht es nicht um den Taurus,[19] sondern um kontinuierliche Großlieferungen industrieller Produktion vor allem von Artillerie- und Flugabwehr-Munition, aber auch von Panzern etc… Werden die Europäer (oder gar Deutschland[20]) – falls die USA sich zurückziehen – diese in dem Ausmaß liefern, der für einen Angriff nötig wäre? Für den Außenstehenden ist ja sogar unsicher, ob EU oder NATO genug Waffen liefern, damit die Ukraine sich verteidigen kann.
- Sucht man einen Kompromiss bleibt die Frage, ob der Angreifer dem zustimmt oder ob die Thesen Putins, dass Russland und die Ukraine vom Wesen her zusammengehören, eine souveräne Nation Ukraine also für Russland nicht erträglich ist,[21] tatsächlich die russische Politik bestimmen. Bekanntlich wird diese Vorstellung von der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützt, welche durch die Ausbreitung der Union mit der römisch-katholischen und die Entwicklung einer autokephalen ukrainischen Kirche Teile ihres früheren Sprengels verloren hat. Ein derartiger nicht nationaler, sondern offen „imperialer“[22] Anspruch könnte in die globale politische Struktur der Vereinten „Nationen“ in der Tat nicht integriert[23] und würde auch im Zentrum des uniert-katholischen Teils der ukrainischen Nationalbewegung Lemberg/Lwiw nicht akzeptiert werden. Ähnliches würde gelten, wenn in Russland verbreitete Vorstellungen wie die, den Westen vom „Krebs NATO“ zu heilen,[24] tatsächlich die Führungsschichten Russlands prägen. Oder ist das Verhältnis zu diesen Konzepten eher instrumentell und der Kreml angesichts der weithin negativen Folgen des Ukrainekriegs[25] doch zu einem Kompromiss-Frieden bereit?
Wer weder die Schlacht um Kiew mit den zu erwartenden Verwüstungen riskieren will noch die Mittel anbieten kann, um den Krieg durch Rückeroberung der besetzten Gebiete zu gewinnen, der muss der Ukraine raten, einen Kompromiss-Frieden zu suchen.
Biografische Angaben: Prof. em. Dr. Hans-Heinrich Nolte, geb. 1938, ab 1980 Professor für osteuropäische Geschichte in Hannover, 2003 Ruhestand. Gastprofessuren in Lincoln/Nebraska, Woronesch und Wien. 2000 Gründung der „Zeitschrift für Weltgeschichte“. Ehrenvorsitzender des Vereins für Geschichte des Weltsystems e.V.
Eine Kurzfassung des Artikels erscheint im Heft 201 – Revolte des Globalen Südens. Das Heft wird Ende Juli publiziert.
Fußnoten
[1] Vgl. Alex Kay: Empire of Destruction, New Haven 2022. Kay zeigt die planmäßigen von Deutschen verübten Massenmorde an Zivilisten als ein „tiefes Loch in dem Teppich von Einhegungen, den Millionen Mitmenschen seit der Achsenzeit (wenn auch mühsam und immer wieder durch Risse des Stoffs unterbrochen) über die >schrecklichen Gewalten< hinweg gewebt haben“ (Rezension Zeitschrift für Weltgeschichte 22.1/2 S. 386).
[2] Richard Overy: Allied Bombing and the Destruction of German Cities, in: Roger Chickering, Stig Förster Hg.: A World at Total War, Cambridge 2005, p. 277 – 295, Zitat Arthur Harris p. 290. Konkrete Beispiele auch in Hans-Heinrich Nolte Hg., Rosemarie Brinkman Red.: Erinnerungen an Krieg und Nachkrieg zwischen Deister und Berlin, Barsinghausen 2020 (Eigenverlag, PDF auf Anfrage).
[3]Theodor Ebert: Gewaltfreier Aufstand, Freiburg 1968; viele Auflagen und Sammelbände.
[4] Hans-Heinrich und Wilhelm Nolte: Ziviler Widerstand und autonome Abwehr, Baden-Baden 1984.
[5] Vgl. Dariusz Adamczyk: Am westlichen Rande Eurasiens. Polen in der post-1989-Welt. In: ZEITSCHRIFT FÜR WELTGESCHICHTE Heft 23.1 S. 179 – 201.
[6] Textauszug in Nolte, Bernd Bonwetsch, Bernhard Schalhorn Hg.: Quellen zur Geschichte Russlands, Stuttgart 2014 = Reclam 19269, S. 532 f..
[7] Grundsätzlich und in Rankescher Tradition Paul Kennedy: The Rise and Fall of the Great Powers, Neuaufl. New York 1989. Versuch der Einbindung der Geschichte der Mächte in die umfassende Weltgeschichte Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem Bd. 1 – 4, übersetzt Frankfurt 1989 – Wien 2012; zur (begrenzten) Wirkung im deutschen Sprachraum Andrea Komlosy, Klemens Kaps Hg.: Zeitschrift für Weltgeschichte 22 ,1-2 (erschienen 2022).
[8] Die Begründungen bei Stephan Hobe: Einführung in das Völkerrecht, 9. Tübingen usw. 2008, S. 540 – 617. Vgl. Harald Kleinschmidt: Völkerrecht als Oktroi der europäischen Staaten, in: Welt-Trends 183 (Januar 2022) S. 27 – 32; Hans-Heinrich Nolte Hg.: Expansionismus im Weltsystem, in Welt-Trends Nr. 195 (Januar 2023) S. 16 – 45..
[9] 2005 gaben die USA nach SIPRY 546,0, China 51,4 und Russland 39,8 Mrd. $ für Rüstung aus: Hans-Heinrich Nolte: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2009, S. 295.
[10] Vgl. Bernd Greiner: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, ³München 2022, S. 180 – 196.
[11] Serhii Plokhy: Das Tor Europas, übersetzt Hamburg 2022; Ders.: Der Angriff, übersetzt Hamburg 2023, Kontinuierliche russlandkritische Berichterstattung in OSTEUROPA. Vgl. auch Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, 4.Auflage Stuttgart 2024 = Reclam premium 14442, S.452 – 488.
[12] Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, 4.Auflage Stuttgart 2024 = Reclam premium 14442, S.452 – 488. Zur russischen intellektuellen Tradition des „jetzt sind wir dran“ Hans-Heinrich Nolte, Konkurrierende Imitation als Erklärungsansatz für die Politik Russlands, in: Z 34 (Heft 134, Juni 2023) S. 102 – 116.
[13] Alexis de Toqueville Die Demokratie in Amerika, dt. Frankfurt 1956, S. 57: „In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! Er hat zwar kein Autodafé zu befürchten, aber er ist allen erdenklichen Unannehmlichkeiten und täglichen Nachstellungen ausgesetzt…“
[14] Vgl. Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden, Versailles und die Welt, München 2018.
[15] §§ 2.3; 42 der Charta; Hartmut Krüger Hg.: Charta der Vereinten Nationen, Ausgabe Stuttgart 2005 = Reclam 9801, S.13, 25 f..
[16] Serhii Plokhy: Das Tor Europas, übersetzt Hamburg 2022; Ders.: Der Angriff, übersetzt Hamburg 2023, Kontinuierliche russlandkritische Berichterstattung in OSTEUROPA.
[17] Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Hg. Werner Hahlweg, 19. Auflage Bonn 1980; die zwei folgenden Zitate S. 633 und 634.
[18] Ebda, S. 412.
[19] Die Taurus-Diskussion erinnert an die über deutsche „Wunderwaffen“ 1944/45, die bekanntlich wenig gegen die fabrikmäßigen Serienproduktionen der Alliierten bewirkt haben (eindrucksvoll J. R. & W. McNeill: The human web, New York 2005, S. 297).
[20] Da die USA und Großbritannien Garantiemächte des Budapester Abkommens waren, spielt Deutschland in der dritten Reihe. Dass deutsche Politikerinnen und Politiker sich in die erste Reihe vordrängeln, ist angesichts der (politischen) Risiken dieser Politik verblüffend.
[21] Text der Rede vom 21.2.2022 übersetzt in: OSTEUROPA 72 (2022 Heft 1 – 3) S.119 – 135.
[22] Zum Begriff Hans-Heinrich Nolte: Kurze Geschichte der Imperien, Wien 2017 (Böhlau).
[23] Eine Stärke der hegemonialen Stellung der USA liegt ja gerade darin, dass sie der formalen Unterordnung nicht bedarf, so dass es z.B. möglich war, dass Deutschland sich nicht am 2. Irakkrieg beteiligte.
[24] Sergej Karaganov: „Die NATO ist ein Krebsgeschwür. Heilen wir es?“ übersetzt in Rundbrief des Vereins für Geschichte des Weltsystems VGWS Nr. 319, 29.01. 2022.
[25] Vgl. Kerstin Kaiser: Der Ukrainekrieg und seine Folgen für Russland, in Welt-Trends 200 (Frühjahr 2024) S. 47 – 51.
WeltTrends 200 – Multipolare Geopolitik
Die Weltpolitik, die zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, ist heute angesichts globaler Veränderungen und Herausforderungen als analytische Kategorie aktueller denn je. Im Thema betont unsere chinesische Autorin Yuru Lian die drei Besonderheiten der chinesischen Geopolitik: die innere Orientierung, das Bestreben, sich auf das nachbarliche Umfeld zu stützen, sein immer mehr über die staatlichen und regionalen Grenzen hinausgehender weltpolitischer Einfluss. Auf die volle Übernahme neokonservativer Ideologie in Deutschland verweist Petra Erler. Weitere Autoren beschäftigen sich unter anderem mit den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen (Roland Benedikter), dem Ukrainekrieg und seinen Folgen für Russland (Kerstin Kaiser) sowie zum Wesen des Wirtschaftskrieges (Andreas Forner).
Um aktuelle regionale Probleme geht es im WeltBlick: die Konflikte zwischen Venezuela und Guyana (Raina Zimmering) und zwischen Armenien und Aserbaidschan (Philip Ammon) sowie das Abkommen über die Falepili-Union zwischen Australien und Tuvalu (Oliver Hasenkamp).
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